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rechtlichen Guckloch. Taxi-Orange, Reality-TV nennt es sich, wenn sich mehrere Menschen für einige Zeit einsperren lassen und dann vor den Kameras eine Gemeinschaft bilden und echt und life zusammen leben und kuscheln. Zur Reality gehört es, daß es nach dem Gesetz des Stärkeren nur einen Sieger geben _ kann: Im Versuchslabor des ORF wählt das Fernsehpublikum . jede Woche einen Sieger, der dann einen seiner Mitbewohner des Käfigs verweisen darf, um dem Ziel — dem letzten winkt eine Million — näherzukommen. Was bisher geschah? Immer sind es die Täter, die getröstet werden müssen, es sind die Opfer, die Mitleid mit den Tätern zeigen und Erbarmen haben. „Ist ja dich voll, ich hätt’s auch so gemacht.“ Ein Lebenslauf ist etwas anderes als eine Biographie. Der Lebenslauf ist die zurechtgebogene, für den Arbeitsmarkt abgebundene und verstümmelte Lebensgeschichte, reduziert auf jene Daten, die das Funktionieren und die Verwertbarkeit der Arbeitskraft belegen, bzw. gewährleisten sollen. Im Unterschen Granitquadern eingesargte Bachverlauf, ein Rinnsal, in dem sich wenig Leben entwickelt, in einem Bachbett, das kein Abweichen und kein Ausbrechen erlaubt, während es in der . Biographie —- um im Bild zu bleiben - mäandert und Inseln, Sandbänke und Seitenarme auch die umliegende Landschaft formen. Zwischen Lebenslauf und Biographie liegt eine tiefe Kluft, oft ist die Biographie ganz abgespalten vom Lebenslauf - und es ist nicht mehr bewußt, daß neben einem Lebenslauf auch noch auf eine Lebensgeschichte zu verweisen ist. Eine Geschichte erzählen, eine Geschichte schreiben, das heißt mit Leid, mit Wut, aber auch mit Neugierde das Korsett von Lebensläufen aufbrechen, Erfahrungen, Erinnerungen freilegen, Lebensentwürfe aufspüren, Möglichkeiten andeuten, vertanen Chancen folgen, Lebensgeschichten weitergeben. Eine Person, eine Figur dabei bloß voll Mitleid vorzuführen, hieße sie und ihre Biographie in Mitleidenschaft von Mitgefühl mit solidarischer sozialer Verpflichtung in der ‘Literatur, das heißt auch, behutsam mit Lebensgeschichten Erich Hackl. Foto: Nina Jakl Person ermächtigen, für sich selbst.zu sprechen, sich zuentSie eilt im Laufschritt über den Ponte alla we diese wunderschöne, flachbogige Brücke vor einem zarten Himmel und der verblauenden Ferne des hinab und hinauf sich windenden F' lusses, wer dahin und ins Meer und weiter hinaus übern Ozean und wer aus der Welt und in eine andere Zeit, in ein anderes Leben hinein (oder hinaus?) doch gelangte ... heißt es in Marie-Thérése Kerschbaumers jüngsten Roman „Fern“ über Barbarina, das Kindermädchen, das Künstlerin werden will. Zu Oswald Oberhuber fällt mir nichts ein. Sergej Prokoffjeff hat auf die Frage, woran es liege, daß er ein begnadeter Künstler sei, geantwortet, das liegt daran, daß ich Mitleid empfinden kann — vielleicht ein Hinweis, daß „Mitleid, nicht nur in der ist. Das Mitleid, das ich meine, hat sehr viel zu tun mit der Freundlichkeit in Brechtscher Diktion, wie etwa im Gedicht an die Nachgeborenen angeführt wird: . Dabei wissen wir doch on, der Haß gegen die Niedrigkeit Verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht Macht die Stimme heiser. Ach, wir Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit Konnten selber nicht freundlich sein. Ihr aber, wenn es so weit sein wird Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist ‘Gedenkt unsrer Mit Nachsicht. Eugenie Kain, geboren 1960 in Linz (Oberösterreich). Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft in Wien; Arbeit als Journalistin und im Bereich Training, Beratung und soziale Projekte, Redakteurin bei Radio FRO. 1983 Max von der Grün-Literaturpreis. Publikationen in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien, ORF und Freien Radios. Bücher: Sehnsucht nach Tamanrasset (Erzählungen, Linz 1999); Atemnot (Roman, Linz 2001).