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Anna Mitgutsch. Foto: Nina Jakl Mitleid ist ein zwiespältiger Begriff. Einerseits müßte es zur gehören und Grundlage ethischen Handelns sein, schwer wegzudenken aus selbst einfachen Gesellschaftsstrukturen, andeso selbstverständlich ist und durch Verhaltenscodes, Religion und Gesetze meist eingeklagt werden muß. So notwendig Mitleid als gesellschaftliche Verhaltensweise ist, so problematisch kann es für den Empfänger des Mitleids sein, dabei seine Integrität und Würde zu bewahren, denn Mitleid macht leicht den anderen zum Objekt und stellt eine Hierarchie zwischen Spender und Bedürftigem her, die demütigen kann. Vor allem dann, wenn es als eine Art Abwehrzauber gehandhabt _ wird, ein wohliges Entsetzen, was es alles gibt, das einen Gott sei dank selber nicht getroffen hat. Diese Art des Mitleids verletzt und erregt bei Betroffenen berechtigtes Ressentiment. Vielleicht sollte man den Begriff des Mitleids mit seinem Verdacht auf Verlogenheit und Überheblichkeit durch den Begriff der Empathie, des Mitgefühls ersetzen, der frei ist von der impliziten Hierarchie des Gebens und Empfangens. Stellenwert des Mitgefühls in der Literatur. Sicherlich handelt es sich um keinen ästhetischen Begriff, der im Sinn der Bewertung nach künstlerischen Kriterien Bestandteil der wohl das Schreiben als auch das Lesen von Literatur beeinflussen können. Trotzdem plädiere ich, gerade in einer Zeit, in der Mitleid in allen Bereichen des Lebens als unzeitgemäß abgetan und lächerlich gemacht wird, für die Bedeutung von Empathie als Schreibhaltung und auch als Lesehaltung. Das literarische Werk mag zwar ästhetischen Kriterien gehorchen und nach ihnen zu beurteilen sein, aber als Ausgangspunkt und Motiv für das Erzählen ist doch das einfühlende Interesse an den Erzählfiguren ein nicht weniger. brauchbarer Ansatz als reines ästhetisches Wollen oder bloßer _ Selbstausdruck des Erzählers. Sobald ein Text einen Ausschnitt der Wirklichkeit, der Gesellschaft, überhaupt Menschen zum Gegenstand hat, wie es in der erzählenden Prosa ja üblich ist, wird die Haltung des Autors zu seinen die einzige mögliche Haltung und sollte um der Komplexität willen auch nicht der ausschließliche Blickwinkel bleiben. „Gibt es etwas Mutigeres“, sagt der israelische Schriftsteller Chaim Be’er in seiner Autobiographie Stricke, „als die Dinge berücksichtigen als das, was das Auge sieht? -Und was ist barmherziger, als die Dinge liebend betrachten, mit einer Aber die schwierigste und in der Literatur reifste Kombination sei die von Zuneigung und Ehrlichkeit, „ohne Haß und ohne Mitleid“. Ohne Mitleid, aber mit jener Empathie, die versteht, die Gesetzmäßigkeiten im Leben anderer anerkennt, auch wenn sie nicht die eigenen, vielleicht nicht einmal nachvollziehbar sind, mit einer Empathie, die das Urteil suspendiert, weil man für diesen Augenblick des Einfühlens den oo Betrachtet man den Begriff der Empathie als eine Form der literarischen Wahrnehmung, als eine Beziehung zwischen Autor und Gegenstand des Erzählens, dann wechselt er von der Kategorie des Emotionalen zum Stilprinzip. Als solches ist Einfühlung eine der Möglichkeiten des Autors, sich seinem Thema, seinen Figuren anzunähern. Sie ist nicht zu verwechseln mit Moralisieren oder mit Sentimentalität, denn Empathie 11