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Identifikation, im Gegenteil, sie setzt den Mut des genauen, unbestechlichen Hinschauens ohne vorgefaßte Meinung voraus, der das Darstellen von lebendigen, plastischen Erzählfiguren überhaupt erst möglich macht. . Vom Standpunkt der Rezeption aus gesehen, hat das Mitgefühl des Autors wenig Bedeutung und wirkt höchstens irritierend, wenn es nicht durch die Darstellung, also ästhetisch vermittelt wird. Emotionen, die bloß behauptet und beim Leser eingefordert werden, fallen unter die Kategorien Kitsch oder lehrhafte Literatur. Gefühle sind nicht einklagbar, sie müssen hervorgerufen werden, und die Werbung hat wirksamere psychologische Mechanismen, um Gefühle hervorzurufen als die Literatur. Kitsch wirkt direkter auf die Tränendrüse als Kunst. Es ist weder Aufgabe noch Ziel der Literatur, Gefühle hervorzurufen. Allerdings funktionieren selbst die sperrigsten, anspruchsvollsten Texte nur über jene dialogische Brücke wird. Letztlich geht es bei aller gelungenen Rezeption von Literatur immer darum, ob mich ein Text anspricht, ob er zu ses Ob bedingt. Ein Text spricht mich an, d.h. er bedeutet mit etwas, ich kann mit ihm in einen Dialog treten, weil da etwas, wenn auch noch so flüchtiges Gemeinsames ist zwischen ihm und mir, ein Element des Erkennens und Wiedererkennens, das was man bei der Begegnung von Menschen Sympathie nennt. Ohne diese Sympathie gibt es keine befriedigende Kommunikation. In Chaim Be’ers autobiographischen Roman Stricke > Mutter des Autors tief erschüttert mit einem Buch am Tisch sitzt, während ihr Mann todkrank im Nebenzimmer liegt. Aber sie weint nicht oder nicht nur um ihren Lebenspartner, sondern um den „Tod des Iwan Iljitsch“ von Tolstoi: „Was habe ich schon mit Iwan Iljitsch zu schaffen, jenem längst vergessenen russischen Goj, einem Amtsrichter, der nach mitleiderregenden Bemühungen endlich befördert worden war, sein ersehntes Einkommen von 5000 Rubel bekam und in einer der Bezirksstädte des Zarenreichs starb?“ fragt sie ihren Sohn. Man habe doch eigentlich nicht erwarten können, das sie irgendeine Sympathie für das einfache, offenkundig normale Leben des an Magenkrebs dahinsiechenden Iwan Iljitsch empfinden würde, „doch dank der schlichten, tragischen und erschütternden Erzählweise, die scheinbar aller künstlerischen Effekte entbehrte, habe sie sich ganz von der Verzweiflung dieses Mannes packen lassen.“ Und dabei wird die Sache eines Fremden, wird sein Leben und sein Tod zur Sache der Leserin, nicht durch behauptete Gefühle, auch nicht durch Identifikation und nicht durch Mitleid, sondern indem das genaue Hinschauen des Autors auf der höchsten Ebene der Abstraktion und gleichzeitig auf der Ebene des Gefühls bei der Leserin eine Erkenntnis erzeugt, zu der sie auf diese Weise durch eigene Erfahrung allein nicht gekommen wäre. . Mitgefühl, Empathie hat im Unterschied zu Mitleid immer auch ein Element der Identifikation. Aber wenn es Autor und Leser verbindet, nimmt es selten den direkten Weg über die eigene Person und das eigene Erleben. Geschichten, selbst herzzerreißende, die nicht literarisch geformt sind, haben eine andere Wirkung als Literatur. Erst wenn der Autor von seinen eigenen Gefühlen absieht, auf das direkte Aussprechen und Ansprechen von Gefühlen verzichtet, kann es ihm gelingen, das Dargestellte auf jene Ebene zu bringen, auf der das Erkennen die Identifikation ablöst. Und der Leser kann dann 12 seinerseits von seiner eigenen Geschichte absehen und sich jene Erfahrung aneignen, die iiber seine und die konkrete Situation der Romanfigur hinausgeht und doch beide an einem bestimmten Punkt zusammenführt. An jenem Punkt werden die Menschheitsfragen von den Einzelschicksalen abstrahiert, aber auch die individuellen, aus einem konkreten geschichtlichen Augenblick entsprungenen Episoden ins Überzeitliche, ' Überindividuelle verwandelt und aktualisiert. Ohne die Transparenz auf das Allgemeine bleibt jede Geschichte Anekdote und ohne die Konkretisierung im Einzelschicksal wird Literatur zum Traktat. Chaim Be’er läßt seine Mutter folgendes zu ihrem Sohn sagen: „... an dem Morgen, als der Arzt kam, um Vater zu untersuchen, hast du das erste Mal das Zimmer von Iwan Iljitsch betreten. In alle Ewigkeit wird dieses Zimmer den Namen tragen, den Tolstoi ihm gegeben hat, und nur die darin liegen, sind immer wieder andere, BAER einer uns verborgenen Regel.“ (S.271) Daß dieses Niveau der Allgemeingültigkeit erreicht wird, hat zu einem hohen Grad, wenn nicht ausschließlich mit ästhetischen, literarischen Kriterien zu tun. Aber Chaim Be’er erzählt im Anschluß daran die Anekdote des jungen Isaak Babel, der Maxim Gorki seine ersten Schreibversuche zu Füßen legte und der den Rat bekam, „wenn du vor dem Leben wegrennst, in deiner Ecke sitzt und die Augen zumachst, wirst du nie etwas schreiben, was es wert ist, gelesen zu werden.“ Anna Mitgutsch lebt in Linz und Boston. Studium der Anglistik und Germanistik. Lehrbeauftragte an germanistischen Instituten in Großbritannien. Neben literarischen Arbeiten auch wissenschaftliche Publikationen über englische und deutsche Litertur. Zahlreiche Auszeichnungen, darunter der Anton Wildgans-Preis für Literatur der Österreichischen Industrie und zuletzt der Solothurner Literaturpreis. Scharfsinnige Essayistin (so u.a. über Veza Canetti) und Verfasserin der Romane: Die Züchtigung (1983); Das andere Gesicht (1986); Ausgrenzung (1989); In fremden Städten (1992); Abschied von Jerusalem (1995); Das Hauser Kindheit (1999). : Konstantin | Kaiser | Das unsichtbare Kind Essays und Kritiken Konstantin Kaiser Das 3 - unsichtbare Kind Essa! a und Kritiken = . Wien: Sonderzahl Verlag Oktober 2001 ISBN 3 85449 185 9 | 35,-/€ 18,- we -Ein Buch über falsche Alternativen, "Provinz und Modernisierung, Sozialdemokratie und Eßkultur, Nationalsozialismus und sein Fortleben, Österreich, die Schweiz und Deutschland, vor allem aber über Exilierte und Verfolgte und ihre gegenwärtige Bedeutung. IM VERLAG DER THEODOR KRAMER GESELLSCHAFT ERHÄLTLICH