Als mir — im Frühjahr einmal — Konstantin Kaiser für das
Abwesenheit des Mitleids i in der Literatur“ vorgeschlagen hat,
da hab ich meine spontane Zustimmung so begründet: Das
Thema gefalle mir, weil mir nicht sofort etwas dazu einfalle.
Als einem, der in einem Zweitberuf Dramaturgie unterrich¬
tet, ist mir dann natürlich Aristoteles eingefallen: Er schrieb
insbesondere der Tragödie, im Zuschauer werde zwecks seeli¬
scher Reinigung Furcht und Mitleid erweckt.
Dann fiel mir ein: Vor fünfzehn Jahren hab ich ein Buch von
Adolf Holl gelesen, das heißt Mitleid im Winter, Holl schreibt
darin vom Mitleid als einem unbequemen Gefühl.
Konstantin Kaiser begründete seinen Themenvorschlag un¬
ter anderem damit, daß er für ihn etwas Peinliches habe, und
sches Wort. Gut brauchbar für Kalendergeschichten und
Sonntagspredigten, wo der Pfarrer dann Martin von Tours als
Beispiel heranzieht, der seinen Mantel mit einem Bettler teilt,
oder Franz von Assisi, der einen Aussätzigen küßt, oder Mutter
Teresa. Wenn ich aber an den Pfarrer auf der Kanzel denke,
denke ich auch an die mitleidlosen Machtstrukturen, die er ver¬
tritt.
Mitleid gehört in die Kategorie von Wörtern wie Erbarmen,
Brüderlichkeit, Barmherzigkeit. Wir verwenden solche Wörter
nicht mehr gerne = erst recht nicht, wenn. wir von uns selber re¬
den. Diese Wörter sind ein bißchen zu groß, ein bißchen zu pa¬
thetisch, ein bißchen peinlich eben, sie klingen zu sehr nach
„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“.
In der Negation gebrauchen wir diese Begriffe noch eher:
mitleidlos, erbarmungslos, unbarmherzig... Aber sonst: Statt
vom Mitleid und dem, was daraus resultieren sollte, reden wir
lieber zum Beispiel von Solidarität, aber das bedeutet nicht das
Gleiche.
auch damit zusammen, daß was die einen als Tugend ansahen,
andere immer schon für Schwäche hielten. Der Streit zwischen
den Befürwortern und Ablehnern des Mitleids zieht sich ja
durch die ganze Philosophiegeschichte hindurch. In der
Antike waren es im großen und ganzen nur die Stoiker, die
. Mitleid nicht als Tugend ansahen. Von hier weg spannt sich
dann aber ein Ablehnungsbogen über Spinoza und Thomas
Nietzsche, er verstand Mitleid als einen „depressiven Instinkt“,
er verspottet es, läßt im Zarathustra dem Teufel sagen: „Gott
ist tot; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestor¬
ben.“ Für den ein gutes halbes Jahrhundert jüngeren
Schopenhauer hingegen war Mitleid schlechthin die Grundlage
aller Moral.
Beide Haltungen sind also fast von Anfang an da, sie wur¬
den — wie unter Philosophen halt üblich — wortreich, oft leicht
und oft wenigstens irgendwie nachvollziehbar argumentiert.
In den letzten Jahrzehnten hatten es die Mitleidsgegner ziem¬
lich schwer.. Der Nationalsozialismus hatte Mitleid als
„Humanitätsduselei“ denunziert, die Gnadenlosenkeit zur
Staatsdoktrin gemacht. O-Ton Hitler: Man dürfe kein Mitleid
grunde zu gehen.
Nach Auschwitz galt es dann - ich nenne es einmal so — im¬
merhin als ein wenig unfein, gegen Mitleid anzuschreiben.
Die, die es gerne getan hätten, haben etwas von Denkverbot
und Gesinnungsdiktatur vor sich hin gemault.
Aber seit etlichen Jahren melden sie sich nun wieder laut
und vernehmlich zu Wort. Konrad Paul Liessmann etwa, der in
allen Medien geläufig den Philosophen zu mimen imstande ist,
wirft in seinem vor ein paar Jahren erschienenen Buch Der
gute Mensch von Österreich den „Linken“ vor, sie hätten „das
Denken durch die Moral“ ersetzt, und impliziert damit, daß er
beides gemeinsam, nämlich moralisch verantwortliches
Das Hohn- und Totschlag-Vokabel „Gutmensch“ hat
Deutschland importiert. Dort wurde ja auch, von französischen
Modedenkern inspiriert, das „Ende der Betroffenheit“ prokla¬
miert. Sie kennen das alles: Es ist das ie Unter¬
futter des Neoliberalismus.
So wie ich das referiere, werle ich unterschwellig: Hier die
Guten, dort die Bösen.
Aber ist das wirklich so einfach? Adorno und Horkheimer
haben in der Dialektik der Aufklärung Mitleid zwar als ein we¬
sentliches Element von Moral und Ethik gesehen, die
Mitleidsmoral aber als das Werk der ,,Lakaien des Biirgertums“
bezeichnet, denn das Mitleid bestätige als Ausnahme die Regel
der Unmenschlichkeit. Auf aktuelle politische Verhältnisse um¬
formuliert: Die österreichischen Asylgesetze sind unmenschlich
und mitleidslos, und jene Mitleidigen, die sich privat oder pri¬
vat-organisiert um Asylanten kümmern, mildern die Folgen der
Gesetze, sodaß sie nicht geändert werden müssen.
Zurück zum Thema im engeren Sinn. „Gegenwart und
Abwesenheit des Mitleids in der Literatur“: Was ist denn ei¬
gentlich gemeint? Eine Literatur, die von Gegenwart oder
Abwesenheit des Mitleids handelt, oder eine Literatur, die ge¬
schrieben wird von einem Autor, einer Autorin, der oder die
Mitleid zu empfinden und literarisch umzusetzen, wenn nicht
gar fruchtbar zu machen imstande ist?
Die zweite Möglichkeit interessiert mich mehr. Sie wirft ein
paar interessante Fragen auf — zumal in den Bereichen jener.
Literatur, die sich kritisch mit gesellschaftlichen, politischen
und sozialen Themen auseinandersetzt. Bedarf es, um Literatur
dieser Art zu schreiben, beim Autor, bei der Autorin des
Mitleids mit jenen Menschen, die unter den beschriebenen
Umständen zu leben und zu leiden haben?
Bertolt Brecht wollte mit seiner Literatur ganz gewiß ge¬
sellschaftliche Zustände verändern, ob er aber — ganz privat —
Ich weiß es nicht, ein wenig zweifle ich daran. Bei Heinrich
Böll, der gerne als „der gute Mensch von Köln“ verspottet .
wurde, vermute ich größere Übereinstimmung von - ich sag
einmal: — Charakter und Werk.