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ner diffusen Empfindsamkeit, resignativen Sensibilität, die ich eben zu schildern versucht habe. Alle glauben übrigens genau zu wissen, was Leid sei, als wäre dieses jedermann offenbar und jederzeit kenntlich. Abgesehen von der Episode der Mitleidsliteratur ist in der Literaturgeschichtsschreibung und -theorie kaum vom Mitleid die Rede. Was die heutigen akademischen Lehrerinnen und Lehrer an der Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts vor allem interessiert, ist Innovation und Tabubruch (wozu unsere AkademikerInnen selber weniger neigen), ist das Vermögen der Kunst, die Dinge anders zu sehen, sie in einen uns ungewohnten Zusmmenhang zu bringen, unsere beschränkte Sicht zu erweitern. Die Kunst gleicht hier einem Meisterkoch, der Knödeln dahin bringen kann, schließlich alles als eßbar anzusehen, wenn es nur in der richtigen Proportion und entsprechend zubereitet angeboten wird. Dabei wird es an Schocks und Tabubrüchen nicht fehlen, etwa beim ersten Genießen gebratener Wespen, die in Südchina als besondere Spezialität gelten, oder umgekehrt beim Verschlingen von Knödeln mit Kraut, welche in einem kleinen Gebiet Europas als eßbar gelten. So wie der beibringt, erzieht die meisterhafte Kunst ihrerseits den provinziell beschränkten Rezipienten zu uneingeschränkter Empfindsamkeit, die durch Vorurteil, Stereotyp, moralischen Vorbehalt nicht mehr gehemmt ist, die, stets zu allem Empfinden bereit, einer unendlich elastischen, alle Formen und Farben annehmenden Seelenmaterie oder Psychomaterie gleicht. Solche sich beliebige Gestalt gebende Gegenwart des Seelischen haben die Philosophen allerdings seit jeher, zumindest seit der Scholastik, als Vorstellung bezeichnet und mit der leicht ironischen Fußnote versehen, daß sie wohl anerkennten, Walter Wippersberg. Foto: Nina Jakl daß sich das vorstellende Gemtt‘i im Genusse seiner Freiheit wähne, ein Bei-Sich-Sein fühle, wohl aber in diesem Bei-SichSein nur eben bei sich sei und dem Anderen gegenüber, das * sich der Macht des Vorstellens entziehe, unfrei bleibe, ohnmächtig zu Wissen und Tat. Der Verdacht besteht, daß die Ohnmacht zu Wissen und Tat das soziale Ziel heutiger ästhetischer Erziehung des Menschen ist. Die universelle Empfindsamkeit ist keine Neuigkeit des 20. schen Diskussionen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Die, Forderung der Empfindsamkeit trat damals und tritt bis heute ernst zu nehmen, in ihren Widersprüchen und Entwicklungen, Verworrenheiten und Klärungen anzunehmen. Die neue Empfindsamkeit verstand sich als Allierte der Aufklärung und des von ihr proklamierten Menschenrechts auf Persönlichkeit, eine Alliierte, die, wie sich im weiteren Fortgang zeigte, immer wieder Rücksichtnahme auf ihren verletzlichen Zustand einklagte. Oft sah sich die Empfindsamkeit nämlich durch die Mündigkeit beeinträchtigt. ‚Aber auch in der Philosophie, die ieh hier als den etwas schlaueren älteren Bruder der Literaturwissenschaft präsentiere, ist vom Mitleid, zumal auf dem Gebiet der Ästhetik kaum die Rede. Furcht und Mitleid leiten zwar in Aristoteles Poetik in der Krisis der Tragödie, auf ihrem Wendepunkt die läuternde Katharsis ein, zu schaffen. Auch in der antiken Rhetorik, Josef Haslinger referiert dies in seiner vielgelesenen Politik der Gefühle, wird dem Redner das Hervorrufen starker Gefühle als Mittel zur Klärung der Gedanken, die in eine gemeinsame Entschlossenheit führen 15