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mag, zur Pflicht gemacht. Furcht und Mitleid verhalten sich hier also zur wahren Kunst wie die Volkssprache zur Staatssprache im sogenannten utraquistischen Unterricht in der Zeit der Monarchie, wo in den ersten beiden Volksschulklassen, z.B. in Unterkärnten, das Slowenische noch verwendet wurde, um die Kinder an den Gebrauch des Deutschen als der wahren Sprache heranzuführen. Mehr Platz fürs Mitleid hat die Moralphilosophie, | die Tugendlehre, und einem Immanuel Kant war immerhin noch klar, daß Mitleid nicht von der Mitfreude zu trennen ist, daß also die Fähigkeit mitzuleiden nicht erworben wird aus einer allgemeinen Verzweiflung und Trauer über die Vergänglichkeit und Hinfälligkeit der Natur, sondern aus dem Übergange von Leid zu Freude, daß also eins das andere in sich trägt. Wer nicht mitleidet, wird sich auch nicht mitfreuen können. Und umgekehrt: Wer sich nicht mitfreut, ist auch keines Mitleids fähig. ‘Kant kennt auch den Unterschied zwischen Mitleid und Erbarmen oder Barmherzigkeit, der in Bertolt Brechts Fliichtlingsgesprdchen verschwunden ist. Von den Zöllnern heißt es da, aus dem Gedächtnis zitiert: „... sie hatten Mitleid, sie ließen sich bestechen ...“ (So nur gelangte der Verfolgte über die Grenze.) Einer, der ein Erbarmen hat, muß nicht Mitleid haben, und Mitleidige gibt es, die dennoch erbarmungslos sind. Barmherzigkeit meint ein manifestes Handeln: Wohltat, die man erweist, nicht allein Mitgefühl, das man schenkt. Schlimm sogar können die Motive der Barmherzigkeit, der Caritas, sein, zumal wenn sie auf Ruhigstellung Enteigneter, Entrechteter, Verelendeter gerichtet ist. Freilich, fiir den gestrengen Immiandel Kant bleiben Mitleid und Mitfreude bloß „sinnliche Gefühle“. Pflicht ist es nicht, sie zu haben, Pflicht ist es vielmehr, sie „als Mitleid zu Beförderung des tätigen und vernünftigen Wohlwollens zu gebrauchen“. So gehören Mitleid und Mitfreuen in Kants Metaphysik der Sitten zwar wie in der Asthetik (siehe oben) den untersten Schulstufen an, sind sozusagen slowenische Bauernkinder im Reich der deutschen Sitten und des deutschen Geistes, aber sie haben doch ihren Platz im durchgehenden sozialen Zusammenhang, sind ein eigener Paragraph in einem Teilsystem der Philosophie. Anders verhält es sich bei dem Philosophen, der als der Philosoph des Mitleids schlechthin gilt, bei Arthur Schopenhauer. Zentrum : gerückt, das dann leer ist. „Die Haupt- und Grundtriebfeder im Menschen wie im Tiere ist“ Schopenhauer „der Egoismus, d.h. der Drang zum Dasein und Wohlsein.“ Der En ist durchgehendes Gesetz, konstituiert die Wirklichkeit des Menschen, der „im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier“ ist. Diesem universellen, ontologisch begründeten und sozial kompakten Egoismus steht als einziges Korrektiv das Mitleid gegenüber, das „ganz allein ... die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller echten Menschenliebe“ sein soll. Dieses Mitleid jedoch steht jenseits des durch den Egoismus konstituierten sozialen Zusammenhangs, es hat seinen Hort nur in dem Einzelnen, der sich gewissermaßen über seine eigene Bestialität zur Humanität erhebt. So groß hier.das Mitleid mit leuchtenden Farben gemalt ist, so schmal wird der Raum, der ihm angewiesen bleibt. menschliche Gesellschaft voneinander gelöst; der Mensch wird daher wahrhaft erst Mensch, wenn er sich als Einzelner über die menschliche Gesellschaft erhebt. Dem folgt, wie bei 16 Nietzsche auch, das mannigfaltige Lob der Genüsse des Einzelnen, des Lachens nur für sich selbst, das dann einen Zarathustra erschüttert, des einsamen Lebens und Erlebens. Friedrich Nietzsche hat in seiner Lehre vom Übermenschen Schopenhauers unlösbares Dilemma weitergeschrieben, die Erhebung des Einzelnen über die Gattung, der er angehört, gefordert, bis hin zur Mitleidlosigkeit gegenüber allem, was sich dem Genie lähmend, störend, klebrig in den Weg stellt. Von diesem großen Wehgeschrei über den Zustand des Menschen’ und dem hysterischen Ringen, einem gedanklichen Dilemma mit physischer Brutalität zu entkommen, scheint uns die resignative Vereinzelung in universeller Empfindsamkeit geblieben, eine Empfindsamkeit, die allen Schrecken und alle Furcht immer schon als Vorstellung bereit hält und damit Mitleid und Mitfreude, die so ohnmächtig nicht wären, immer schon als banale Realisationen längst erdachter Möglichkeiten erscheinen lassen. Für die einsame Masse, die des Mitleidens und Mitfreuens als einer Kur bedürfte, wird das Mitleid fortan zur ärgerlichen Erinnerung. Was man sich nun immer vorstellt, man ist Im Frühjahr 2000 hat der deutsche Konzeptkünstler Christof Schlingensief im Rahmen der Wiener Festwochen bürgerlichen Mitleids unfreiwillig allegorisierte. Ich zitiere aus meinem in ZW Nr. 2/2000 erschienenen Kommentar: .. einige Container neben der Oper ..., in denen SchauspielerInnen Schubhäftlinge mimten. Das Publikum sollte durch Telefonanruf oder Antippen im Internet entscheiden, welcher von den „Häftlingen’ zuerst ‚abgeschoben’, d.h., aus dem Container befreit werde. Zwei derartige Menschencontainer für Flüchtlinge, die nach Österreich gekommen sind, ‚stehen bereits auf dem Gelände des F' lughafens Wien-Schwechat. Im ersten Halbjahr 2000 kamen monatlich über 300 asylsuchende Personen am Flughafen an, von denen viele bis zu zwölf Wochen in den ‚Containern interniert werden. Das Flughafen-Management lehnt jede Verantwortung ab, zuständig sind eine ganze Sonderpolizeieinheit für die Bewachung, ein Jurist, eine halbtags beschäftigte Sozialarbeiterin und eine ehrenamtliche Mitarbeiterin für die Betreuung. In den Containern, in denen gleichzeitig bis zu 70-80 Personen, vornehmlich aus dem Irak, dem Iran, Libanon und afrikanischen Bürgerkriegsländern, untergebracht sind, gibt es nur zwei Waschrdume und zwei Toiletten für alle. Das löbliche Publikum mit der wirklichen Situation von Schubhäftlingen und Asylsuchenden zu konfrontieren, wäre die einem Künstler anstehende Tat gewesen. So aber bot Schlingensief bloß die Gelegenheit, sich in die Situation von Schubhäftlingen einzufühlen — und solche ästhetische Einfühlung, aus der ein jeder hervorgeht, als hätte er alle Leiden der Welt selbst durchmessen und bedürfe keines Mitleids mehr, ihrer teilhaftig zu werden, keines anderen Aktes des Erbarmens als dessen gegen sich selbst, ist biederstes bürgerliches Kulturgut, gepflegt im Konzert- und Theatersaal. Die Moderne hat sich einst dagegen aufgebäumt; der Gehalt verflog, die Form [dieses Aufbäumens] blieb und dient nun als KRleiderständer für beliebige, in ‘der Menschenbrust vielleicht nistende, nimmer sie jedoch durchwühlende Gefühle. [...] Konstantin Kaiser, geb. 1947 in Innsbruck, nn schaftler und Schriftsteller; Exilforscher. Von ihm erschienen zuletzt: Lexikon der österreichischen Exilliteratur (zusammen mit Siglinde Bolbecher, Wien 2000); Das unsichtbare Kind (Essays und Kritiken, Wien 2001).