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Ich zolle denen Respekt, die über verstorbene Freunde mit Würde und Umsicht schreiben können. Mir verklumpt sich beim Schreiben eines Nachrufes alles, der Schmerz um den verlorenen Freund, die Erinnerung an Begegnungen, der Anspruch des Kritikers (der so vieles nicht weiß), die Freude an dem Labor der Formen und Gedanken, in dem Arno Reinfrank als sein eigener Bediensteter rastlos schuftete. Aberdeen, London, Wien waren die Städte, in denen wir zusammenkamen, am häufigsten in Wien, wohin es ihn in den letzten Jahren vor allem in den Sommermonaten zog. Ein erheblicher Umstand dabei war seine Verbindung mit Jeanette Koch, der Tochter eines Wiener England-Emigranten, der dieser zwar kaum ein Wort Deutsch, wohl aber die Liebe zu Wien beigebracht hatte. Arno und Jeanette erwogen sogar ernsthaft eine Übersiedlung nach Wien, um dem seit der Regierungsperiode Margaret Thatcher kälter gewordenen London zu entweichen. Arno Reinfrank hat wohl bemerkt, wie hart der Boden, der Grund unter der weich anmutenden Oberfläche Wiens sein kann, wie eng hier, namentlich im literarischen Betrieb, die Spielräume sind, wie bescheiden die Publikationsmöglichkeiten, wie doktrinär die Vorstellungen von einem ästhetisch Gültigen. Was er benötigte und in den 1960er und 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland vorübergehend auch gefunden hatte, war ein um sich greifendes Empfinden vieler, daß die Welt jetzt offen stehe, eine Fülle von Möglichkeiten biete, die, so im Leben wie in der Kunst, zu nützen und zu erforschen wären. Diese Weltoffenheit, die Reinfrank auch von den anderen erwartete, war durchaus mit seiner ,,Gedenkwerkstatt“, seiner literarischen Arbeit zwischen den Zeiten vereinbar. Er redete gern mit Menschen über den Rand dessen hinaus, was üblich war. Dafür fand er in Wien manche Gesprächspartner, auch wenn diese Gespräche oft ans Absurde rührten. (Sein „Tagebuch in Wien, ein paar Stellen“, ZW Nr. 4/2001, S. 9, enthält ein paar meisterhafte Proben solch kleiner Epiphanie ‚von unten’.) Überhaupt war er einer, der sich vertrauensvoll zu anderen an den Tisch setzen konnte. So habe ich ihn 1990 im schottischen Aberdeen kennengelernt. Vertrauensvoll hieß nicht naiv. Geboren am 9.7. 1934 in Mannheim, jüdischer Sozialist der Vater, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde, politisch verfolgt der Ziehvater, der von 1940 bis zur Befreiung in einem Nebenlager des KZ Dachau gefangen war, überlebte Arno Reinfrank die NS-Zeit mit seiner Mutter in einem Schwarzwalddorf, konnte keine Schule besuchen, erfuhr Verfolgung und Ausgrenzung schon als Kind. ‚Halbjude’ nach den Nürnberger Rassegesetzen, kehrte er diese biographische Signatur seines Daseins nur ungern hervor, eher bezeichnete er sich als Exilant (und die Übersiedlung nach Wien wäre eine Art Rückkehr gewesen, wenngleich unter Einhaltung von Distanz). Mit größter Sympathie schloß sich Reinfrank hingegen den seit der NS-Zeit Exilierten und all denen an, die als ihre Freunde, als Forscher und Publizisten an ihrem Schicksal Anteil nahmen. Lange Jahre war er in London Generalsekretär des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Schriftsteller im Ausland, der unlängst aufgelösten Nachfolgeorganisation des deutschen und des österreichischen Exil-PE.N. Reinfranks Erinnerungen an diese Periode harren noch der Veröffentlichung. Dem bundesdeutschen Wiederaufbaustaat war Reinfrank, nachdem er seine Schulbildung schlecht und recht nachgeholt und sich entschlossen hatte, Schriftsteller zu werden, 1955 nach London entflohen, wo er sich zuerst als Hausangestellter durchschlug. Ab 1959 erschienen Schlag auf Schlag seine Bücher: Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke, Parabeln. Bemerkenswert mitunter schon die Titel: So Die Totgesagten (1973), ,,moderne jüdische Schicksalsdichtung“, wodurch gleich von vornherein klargestellt wird, daß die in den Vernichtungslagern Ermordeten für den Dichter nicht Tote sind, deren schlimmes Ende er summarisch beklagt, sondern lebendige Gefährten, Zeitgenossen, die man nicht totsagen soll, ehe man von ihrem Leben Kenntnis erlangt hat. Auf unserem Stern heißt ein anderer Gedichtband Reinfranks. „Aufklären will ich“, sagte er 1985 von sich, „humanisierende Impulse geben.“ Arno Reinfranks großes Lebensprojekt war seine „Poesie der Fakten“. Zehn Bände sind erschienen, zuletzt noch 2001 RaketenGlück. Angesichts des irreversibel scheinenden Auseinandertriftens naturwissenschaftlich-technischer und historischer Faktizität, der Kluft zwischen dem Faktum als dem Wiederholbaren, Reproduzierbaren und dem Faktum, das seine Wiederholung gerade ausschließt, sah Reinfrank seinen poetischen Auftrag darin, dem Harten der wissenschaftlich-technischen Rationalität mit dem Weichen seiner poetischen Sprache zu begegnen, sich vertrauensvoll an den Tisch der Wissenschaft zu setzen, ohne das vielfach Inhumane ihres technologischen Gebrauchs zu übersehen. Nichts weniger strebte er an als eine Rückübersetzung der naturwissenschaftlichen Entwicklung in menschliches Tun, und unbescheiden wünschte er eine Überwindung der Resignation, die uns überwältigen muß, wenn wir die Wissenschaft und Technik nicht als unser eigenes Tun anschauen und begreifen können: „Das Mikroskop“ fortan „als Schwester schwerer Rosen.“ Jeanette Koch (Hg.): Arno Reinfrank. Zeitzeuge- Lyriker— Querdenker. Vierzig Jahre Gedankenwerkstatt. Ein bibliographischer Bericht. Speyer: Marsilius-Verlag 2001. 171 S. — Die Theodor Kramer Gesellschaft wird voraussichtlich am 19. März 2002 in Wien eine Gedenkveranstaltung für Arno Reinfrank abhalten.