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Im August 2000 schrieb mir Anna Maria Jokl einen liebenswürdigen Brief, in dem sie sich bei mir für meinen Beitrag über sie in Zwischenwelt bedankte. Wir waren damals im Gespräch über ein Treffen in Jerusalem. ‚... bitte empfinden Sie es nicht als undelikat“, hieß es am Schluß des Briefes, „wenn ich in meinem Alter keine Verabredungen für nächstes Jahr treffe“. Anna Maria Jokl hatte sich in ihrem Gefühl nicht getäuscht. Am 21. Oktober starb sie in Jerusalem. Der enorme Nachhall, den ihr Tod jetzt in der Tagespresse ausgelöst hat, dürfte die Beachtung, die Anna Maria Jokl zu Lebzeiten zuteil wurde, noch übertreffen. Sie war, auch dank ihrer eigenen Bescheidenheit, eine eher unbekannte Große Alte Dame der deutschen Literatur. Allerdings rief sich Anna Maria, genannt ,,Moidi“, Jokl mit einer eindrucksvollen Serie von Buchpublikationen in den neunziger Jahren von Jerusalem aus in Erinnerung. Dazu zählen der Essay- und Skizzenband Essenzen (1993, erweitert 1997), die zum ersten Mal in Buchform veröffentlichte analytische Studie Zwei Fälle zum Thema „Bewältigung der Vergangenheit“ (1997), die Neuauflagen der Romane Die Perlmutterfarbe (1948; bearbeitet 1992) und Die wirklichen Wunder des Basilius Knox (in tschechischer Übersetzung 1935; dt. 1948/1997) —- und schließlich Die Reise nach London (1999). Parallel erlebte Die Perlmutterfarbe, dramatisiert, in Israel einen ungeheuren Bühnenerfolg. Der 1995 für das Gesamtwerk verliehene Hans-Erich-Nossack-Preis war späte Anerkennung für eine bewegte literarische Karriere, die bereits rund 60 Jahre zuvor vielversprechend begann. 1911 wurde sie als Tochter jüdischer Eltern in Wien geboren, zeitweise wuchs sie in Breslau bei den Großeltern auf. Berlin wurde ihr ab 1928 zur Wahlheimat — und zur Geburtsstätte einer ziemlich umtriebigen Autorin. Anna Maria Jokl war nicht nur an der Piscatorschule, sondern ließ sich auch auf die - damals neuen Medien ein. Sie gestaltete experimentelle Rundfunksendungen - so vom Sender Königs Wusterhausen aus -, schrieb Hörspiele und war Filmautorin der Ufa. Giovanetti pries in der Internationalen Lehrfilmschau das „Libretto“ zum Film Tratsch als „kühne Neuerung des europäischen Films“; Jokls — wie sie selbst schreibt — ,,Anfangerarbeiten“ seien mit Leontine Sagans Mddchen in Uniform und Leni Riefenstahls Blauem Licht verglichen worden. Das Jahr 1933 beendete jah eine vielversprechende Karriere in der Filmbranche: „Der Film Tratsch, ein Experiment mit Laiensschauspielern, durfte bei seiner Uraufführung in der Kamera Unter den Linden im Mai 1933 schon nicht mehr meinen Namen als Autor nennen“, erinnert sich Jokl 1983 in einem Brief an den Journalisten und Antiquar Arnim Borski, der im Band Essenzen abgedruckt ist. In diesem Klima sah sie sich bedroht und ging, „von kommunistischen Schriftstellerfreunden gewarnt, [...] mit 10 Mark in der Tasche nach Prag in die Emigration.“ Die Ausreise aus Berlin wurde gleichzeitig zum endgültigen Abschied von der Mutter und dem Stiefvater, die als Juden ermordet wurden. Im Sommer 1938 hielt sich Anna Maria Jokl auch bei ihren Schwestern in Paris auf, wo sie als Journalistin arbeitete. Angewidert von der Gleichgültigkeit der Franzosen gegenüber dem Schicksal der CSR im Vorfeld des Münchner Abkommens im September, kehrte sie aus Loyalität in die Wahlheimat Tschechoslowakei zurück. In Prag nahm Jokl rege am kulturellen und politischen Leben der deutschsprachigen Emigration teil. Zu ihren Kollegen bei der berühmten AIZ — ArbeiterIllustrierte Zeitung — gehörte die „antifaschistische“ Prominenz des Exils: unter anderem F. C. Weiskopf, Fritz Beer, die politischen Künstler John Heartfield und Johannes Wüsten und die junge Lenka Reinerov4, heute noch — mit 85 Jahren eine Prager deutsche Schriftstellerin. Ihre Prager Freundin Otla ehrte Anna Maria Jokl, jüdischem Brauch gemäß, mit einem „Stein auf ein unbekanntes Grab“ — einer einfühlsamen Skizze in ihrem Buch Essenzen: Otla, Schwester von Franz Kafka, die sich von ihrem „arischen“ Mann scheiden ließ, bald darauf, nunmehr „vogelfrei“, nach Theresienstadt deportiert wurde und sich schließlich dazu meldete, einen Kindertransport nach Auschwitz zu begleiten. Ein weithin unbekanntes Kapitel aus der Prager Zeit dürfte die ungeheure Resonanz auf ihren „antitechnischen, prowissenschaftlichen Roman für Kinder von zehn bis siebzig Jahren“ Die wirklichen Wunder des Basilius Knox sein. 1938 erschienen, kürte es — so Jokl in ihren Erinnerungen — „selbst der Erzbischof von Prag‘ zum „Buch der Liebe in unserer Zeit des Hasses“. Das Buch, das versucht, Physik anschaulich zu machen, wurde von den Nazis als Provokation empfunden: „Wie ich während des Krieges im BBC hörte, wurde es von Himmler verboten, da man es auch an tschechischen Schulen neben dem Unterricht verwendete.“ Auch Jokls Meisterwerk Die Perlmutterfarbe hatte eine turbulente Geschichte. 1937 hatte sie den Roman geschrieben, „um die Folgen zu schildern, die überhebliches Machtstreben mit Hilfe von Lügen und Tricks ergeben können.“ Bei ihrer überstürzten Flucht aus dem gerade durch deutsche Truppen besetzten Prag, Ende März 1939, hatte sie es zurücklassen müssen: Ihr einziger wirklicher Verlust, wie sie gegenüber einem Fluchthelfer erwähnte, der sie schließlich über die Grenze nach Polen schmuggelte. Der machte sie dann später im Flüchtlings-Auffanglager des britischen Konsulats in Kattowitz ausfindig und überreichte ihr ein Bündel — das Manuskript, das er in Prag aufgespürt und ebenfalls über die Grenze geschmuggelt hatte. Die Perlmutterfarbe gehört zu den spannendsten und besten deutschen Schulromanen und verweist parabolisch auf das Konfliktpotential der Zeit: „Thema war der Konflikt zwischen zwei Schulklassen, als ein ehrgeiziger Außenseiter zu Selbstüberschätzung und Aggression gegenüber der Parallelklasse aufhetzt, was zu moralischer und psychischer Korrumpierung führt.‘ In ihrer Prager Zeit veröffentlichte Jokl auch das Kinderbuch: Das süße Abenteuer. Ein Buch über den Zucker. 1950 erschien in der DDR Die verzeichneten Tiere: eine surreale Geschichte über „fehlerhaft“ von einem Kind gemalte Tiere, die aus dem Bild heraustreten und Schwierigkeiten mit ihren verschiedenen „Handicaps“ haben. Schnell schleichen sich Unaufrichtigkeit, Konkurrenz und gegenseitige Schmähungen in ihre Beziehungen ein, ehe sie erkennen, daß sie nur gemeinsam einen Ausweg finden können. Die zweite Erzählung darin, Die Tonleiter zum