Mond, ist Traumvision eines Jungen, der Geräusche zu einer
Tonleiter sammelt, auf der er den Mond erreichen will.
Nach ihrer Flucht aus der Tschechoslowakei lebte Anna
Maria Jokl von 1939-1950 in London. Anknüpfend an eine
Wiederbegegnung mit der vertraut-unvertrauten Stadt im
Jahre 1977, schrieb sie ihr Erinnerungsbuch Die Reise nach
London. Wiederbegegnungen, das 1999 erschien. Der Band ge¬
währt zahlreiche Einblicke in die Biographie der Autorin. In
besonderem Maße beteiligte sie sich an der deutsch-jüdischen
tschechoslowakischen Exilszene in England. Für die Jugend¬
organisation Young Czechoslovakia verfaßte und inszenierte sie
kabarettartige Revuen, die in London und in der Provinz zu ei¬
nem kulturellen Ereignis wurden. Der begeisterte Premieren¬
besucher Oskar Kokoschka beglückwünschte die Autorin
überschwenglich: „Sie sind ein geniales Weib...“ Die Aufnah¬
me von Jokls Erzählung Die Deutung in die hochkarätige Exil¬
anthologie Stimmen aus Böhmen (1944) beweist, wie sehr die
österreichische Verfasserin „zu einer bekannten Tschecho¬
slowakin“ geworden war. Folgerichtig nahm sie auch am poli¬
tischen Leben, so an der „Landeskonferenz der deutschen
Antifaschisten aus der Tschechoslowakischen Republik“ im
Oktober 1943 teil. Nach dem Krieg war sie bei Besuchen in der
Tschechoslowakei vom Schicksal einiger damaliger Weg¬
gefährten und von den Entwicklungen im Zeichen des
Stalinismus nach dem Umsturz im Februar 1948 erschüttert:
„Nach Beendigung des Krieges hatte eine Zeit großer Einsam¬
keit begonnen, da die meisten meiner Freunde aus der tsche¬
choslowakischen Emigration, von der ich ein Teil geworden
war, zurückkehrten — der größte Teil von ihnen nach wenigen
Jahren von Verfemung, Gefängnis bitter oder innerlich tot.“
Bald darauf geriet Anna Maria Jokl selbst mehrfach in die
Mühlen der Ideologien. Eine Arbeit für die US-Militärver¬
waltung in Deutschland wurde ihr nach einer — absurden — De¬
nunziation als Kommunistin verwehrt. 1950 nach Ost-Berlin
gekommen, vermied sie es, sich vereinnahmen zu lassen, ob¬
wohl man ihr Ehrungen — so den Nationalpreis für Literatur - in
Aussicht stellte. Der Österreicherin Jokl wurde daraufhin nach
zwei Monaten die Aufenthaltsgenehmigung entzogen — spekta¬
kuläre Ausweisung trotz prominenter Fürsprecher — darunter
Arnold Zweig, der bei Ministerpräsident Otto Grotewohl inter¬
venierte — und vieler Sympathiebekundungen bei flüchtigen Be¬
gegnungen. Zur Zeit ihrer Ausweisung avancierte Die Perl¬
mutterfarbe zu einem (ost-) deutschen Bestseller und dort zum
gefragtesten Buch in Bibliotheken zwischen 1947 und 1950.
Was aus Zivilcourage und Idealismus gerettet worden war, ge¬
riet dennoch 1950 in der DDR in die Bedrohung. Eigentlich zur
Verfilmung vorgesehen, wurde das Buch der plötzlichen perso¬
na non grata Jokl auf einmal ebenso unerwünscht: die Produk¬
tion einer weiteren Auflage gestoppt, Auslandsverträge vereitelt.
Keine Hilfe für ihr Buch war ein Mann, in dessen Macht es ge¬
standen haben dürfte, sie zu protegieren und vor Sanktionen in
der DDR zu bewahren: ihr einstiger idealistischer Freund und
Geliebter Johannes R. Becher, der inzwischen im „neuen
Deutschland“ Karriere gemacht hatte. Die Wiederbegegnung
war dem Minister eher unangenehm. Erst mit Blick auf die fol¬
genden Jahre wurde Jokl deutlich, daß sie als eine der ersten
Prominenten in einer Reihe von jüdischen Intellektuellen stand,
die in Osteuropa mit noch härterer Konsequenz zur Zielscheibe
eines Antisemitismus stalinistischer Prägung wurden.
Eine subtile Form des Antisemitismus erlebte Jokl zuvor im
Rahmen ihrer psychoanalytischen Ausbildung, die sie in London
— bei Toni Sussmann, von Doris Lessing als „Mother Sugar“
verewigt — begonnen hatte. Mit großen Ambitionen war sie anC.
G. Jungs Zürcher Institut für Komplexe Tiefenpsychologie ge¬
kommen. Ihr erfolgreicher Abschluß sollte jedoch in einem
Ränkespiel hintertrieben werden. Eine Frau — und dazu noch
eine Jüdin! — entsprach nicht den Vorstellungen von Jung und der
„grauen Eminenz‘ Toni Wolf von einem ersten Absolventen der
neugegründeten Schule. Dennoch gelang es Jokl, sich als
Psychoanalytikerin zu etablieren. Nach ihrer Ausweisung aus
der DDR wurde sie am Jüdischen Krankenhaus Gesundbrunnen
in Westberlin zu einer Pionierin der fruchtbaren Zusammen¬
arbeit zwischen Medizin und Psychologie. Anschauungen von
ihrer psychoanalytischen Arbeit vermittelt der beeindruckende
Band Zwei Fälle zum Thema „Bewältigung der Vergangenheit“,
der sich mit infolge der Shoah entstandenen Traumata in der
Generation von Kindern von Tätern und Opfern und dem Prozeß
ihrer allmählichen therapeutischen „Bewältigung“ beschäftigt.
Mit dieser tiefgründigen Studie zum deutsch-jüdischen Ver¬
hältnis nach Auschwitz wird die angeblich „bewältigte Ver¬
gangenheit“ massiv in Frage gestellt.
1966 wählte sich Anna Maria Jokl Jerusalem zur Heimat:
„Hier hatte ich das Recht des Zu-Hause-Seins — for better or
worse, wenn auch unter schweren Einbußen.“ Zuletzt vertrau¬
te sie dem alten Freund aus Prager Zeiten und Schriftsteller
Fritz Beer an, sie beide seien doch „die letzten Granitfelsen der
Emigration“.
Ich habe Anna Maria Jokl und ihr Haus in der Balfour Street
mit dem schönen Vorgarten nicht mehr kennengelernt. Mehrere
Tode und Abschiede hat sie in ihrem Leben intuitiv vorausge¬
sehen. Offenbar auch ihren eigenen. Was bleibt, ist der Blick
auf das ungewöhnliche Leben der Film- und Radiopionierin,
Journalistin, Psychoanalytikerin, Übersetzerin und großen
deutschen Schriftstellerin Anna Maria Jokl — und ihre wun¬
derbaren Bücher.
Dieser Nachruf erschien, in leicht gekürzter Form, zuerst in
„Aufbau“ (New York), 22.11. 2001, 5. 21.