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15 Jahre alt war der am 3. Juni dieses Jahres in Boston verstorbenen Literaturwissenschafter Harry Zohn (vgl. den Nachruf in ZW Nr. 2/2001, S. 4f.), als er 1939 aus seiner alten Heimatstadt Wien vor den Nationalsozialisten flüchten mußte. Und doch blieb er der österreichischen Kultur und vor allem dem jüdischen Beitrag zu ihr zutiefst verbunden. Wie viele Emigranten, die ihre Muttersprache und deren Kultur pflegen wollten, entwickelte auch Zohn eine doppelte Loyalität, sowohl zu seinem Geburtsland als auch zu seinem Gastland, das für ihn wie für viele andere zur neuen Heimat wurde. Er wies aber stets auf einen dritten Aspekt seiner Identität hin, wenn er von sich als aus Wien gebürtiger amerikanischer Jude sprach, wobei er die Betonung immer auf das Substantiv „Jude“ legte und damit auf die Herkunft seiner Familie bewußt aufmerksam machte. Ursprünglich zum Journalistenberuf hingezogen, entschloß sich Harry Zohn in den USA, Deutschprofessor zu werden, seine Muttersprache zu lehren und die in ihr enthaltenen literarischen, kulturellen und ethischen Werte zu pflegen, zu bewahren und neuen Generationen zu vermitteln. Über 40 Jahre fand Harry Zohn in der Brandeis Universität in Waltham/Massachusetts eine ihm besonders gemäße Wirkungsstätte, die im selben Jahr 1948 wie der Staat Israel gegründet wurde und als Beitrag des amerikanischen Judentums zum US-amerikanischen Hochschulwesen gilt. Mit Vorliebe unterrichtete der Professor österreichische Literatur, bot aber immer wieder bei den Studenten beliebte Kurse über Musik, Kunst und Architektur, besonders des Fin de siecle, an. Die Liebe zum Beruf spiegelt sich in einer beinahe unüberschaubaren Fülle von Publikationen wider — Monographien, Aufsätzen, Rezensionen und vor allem Übersetzungen. Nicht zuletzt waren es die Übersetzungen u. a. von Stefan Zweig, Theodor Herzl, Gershom Scholem, Karl Kraus, Kurt Tucholsky oder auch Sigmund Freud, die ihm eine Mittlerrolle zwischen den Kulturen einnehmen ließ. Daß dem „österreichischen“ Literaturwissenschafter seine einstige Heimat nicht zur Fremde wurde, liegt auch an einer Vielzahl anregender Persönlichkeiten, die Zohn im universitären Umfeld kennenlernte. Das Interesse an seinem jüdischen Erbe bewog ihn, Stefan Zweig als Dissertationsthema zu wählen, und sein Betreuer, der Literarhistoriker Karl Viätor, ermutigte den jungen Germanisten, über Zweig als Übersetzer, Kritiker und Mittler zu schreiben. Durch den Ausbau der USamerikanischen Universitäten und einem neu erwachenden Interesse an der deutschen Kultur fanden auch emigrierte Schriftsteller, wie beispielsweise Ernst Waldinger, Zugang zu den Hochschulen. Über Waldin ger, der zwei Jahrzehnte Zohns germanistischer Fachkollege am Skidmore College in Saratoga Springs/New York war, lernte er den aus Berlin gebürtigen amerikanischen Erzähler, Kritiker und Übersetzer Ludwig Lewisohn kennen, der dem Lehrkörper der 1948 gegründeten Brandeis Universität angehörte und bis zu seinem Tode Ende 1955 Zohns väterlicher Freund und Mentor war.' Diese engen Bande zwischen Schriftstellern und Literaturwissenschaftern formten Harry Zohn zu einem „modernen“ Philologen und hatten großen Anteil an seiner Rolle als „Mittler und Brückenbauer“. In diesem Zusammenhang erscheint es mir wichtig, auch auf die „menschliche Mittlerrolle“ des Germanisten hinzuweisen, die sich eindrucksvoll an seinem Briefwechsel mit dem österreichischen Lyriker Theodor Kramer darstellt, aber leider nur in Form der Briefe Theodor Kramers an Harry Zohn erhalten geblieben ist. Zwischen den Jahren 1951 und 1958 trat Zohn — durch Vermittlung seiner in England verheirateten Schwester Margit - mit dem damals isoliert in Guildford/England im Exil lebenden Lyriker Theodor Kramer in eine mehr als 220 Briefe umfassende Korrespondenz.’ Er nahm sich des oftmals schwierigen, hypochondrisch anmutenden und in der Folgezeit schwer kranken Dichters helfend an. So finden sich in den Briefen nachweislich Dankesbezeugungen Kramers für die von Zohn geschickten Schecks, die im Schnitt 10 Dollar ausmachten und Kramer über finanzielle Engpässe hinweg halfen. Für den damals jungen Wissenschafter — der 27jährige war 1951 bereits Mitglied der Abteilung für germanische und slawische Sprachen an der Brandeis-Universität — hatte die Verbindung zu Kramer persönlich wie beruflich einen großen Stellenwert: „Ich war sehr froh einem wirklichen Dichter helfen und meinen Studenten Einsicht in einen wirklichen Dichter bieten zu können.‘* In seinem Artikel Theodor Kramer, wie ich ihn erlebte bemerkte der Germanist dazu: Rückblickend erscheint mir meine Beziehung zu Kramer als früher und wichtiger Teil meines großen Nachholbedürfnisses, was Wien, Österreich und meine Muttersprache betraf, ein Bedarf, der sich später in zahlreichen Editionen, Monographien, Übersetzungen und Vorträgen, jedoch auch in Einladungen an Dichter und Gelehrte zu Lesungen und Vorträgen äußerte.* Aus dem Briefwechsel geht hervor, daß beide die ersten Briefe dazu nutzten, sich menschlich wie beruflich näher kennenzulernen. Speziell Theodor Kramer schien anfangs Zohns Anstellung an der Brandeis Universität nicht richtig zu deuten. Im Brief vom 15. Jänner 1952 schreibt er Zohn, daß er „das mit beiden Doktor Graden‘“® (nämlich Education/Germanistik; MH) nicht ganz verstehe. Erst nach einer offensichtlichen Diskussion über Zohns akademische Laufbahn ändert Kramer seine Briefanrede, die in den ersten Briefen „Lieber Herr Zohn!“ lautete, in „Lieber Dr. Zohn“. Dies dürfte Kramer zu Beginn noch recht schwer gefallen sein, denn am Schluß des nächstfolgenden Briefes schreibt er, nachdem er in der Anrede wieder „Herr Zohn‘ verwendete: „Ohweh! DR Zohn.‘“ Der in Versalien hervorgehobene Doktor („DR“) erklärt sich möglicherweise aus Kramers Starrheit und Unnachgiebigkeit. Es schien ihn irritiert zu haben, daß sein um 26 Jahre jüngerer Briefpartner im Alter von 28 Jahren zwei Doktortitel besaß. Als Zohn versuchte, dem emigrierten Dichter Publikationsmöglichkeiten zu verschaffen, legte er ihm nahe, einen damals führenden britischen Germanisten und Direktor des Londoner Germanic Institute, Professor L. A. Willoughby, auf