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zusuchen, mußte die Antwort Kramers für Zohn nicht weniger befremdend gewesen sein. Der Dichter teilte Zohn im Schreiben vom 23. Dezember 1952 mit:’ Ich hab niemals in meinem Leben Leute aufgesucht, also werde ich auch Professor Willoughby nicht aufsuchen. Wenn ich nicht ein sachliches Anliegen habe, für das er zuständig ist (Pflicht), finde ich solche Dinge für eine schwere Unart. Uebrigens finde ich, dass eigentlich in England die Germanisten von mir Notiz nehmen sollten. Ich kann genug und war auch berühmt usw. Bithrell® hat mich nicht in seiner Anthologie erwähnt, im offiziellen Lehrbuch der deutschen Literatur bin ich auch nicht erwähnt. Da kann man halt nix machen. Im übrigen waren die Germanisten hier immer recht freundlich gesinnt einer gewissen deutschen Afterliteratur, find ich. Sie sind vom Fach und werden es besser wissen. Hinter dieser Absage an Harry Zohn steckt jedoch mehr als Überheblichkeit. Schon im Brief datiert vom 15. September 1951 schreibt er dem Germanisten:? In England kann ich mich nicht an Leute, die im öffentlichen Leben stehen, wenden. Sehr leicht könnte dies mich um meine Stellung bringen. Der Dichter scheint ständig mit der Angst gelebt zu haben, das als Emigrant langsam und mühevoll erworbene ökonomische und soziale Netzwerk — die Anstellung als Bibliothekar, die Unterkunft und den gesellschaftlichen Umgang im Freundes- und Bekanntenkreis — durch eine selbstverschuldete Unachtsamkeit, durch Übertretung „fremdländischer Normen“ zu verlieren. Kramer war zudem im September 1951 noch nicht englischer Staatsbürger — das „Certificate of Naturalisation“ erhielt er erst einen Monat nach dem erwähnten Brief, am 19. Oktober 1951 —, was offensichtlich zu seiner Vorsicht beitrug. Zweifellos prägten Kramer, wie viele Emigranten, die traumatischen Erlebnisse der Anfangszeit in England, die durch Arbeitsverbot, limitierte Aufenthaltsgenehmigungen und spärliche materielle Unterstützung gekennzeichnet war.'” Nach Kriegsausbruch im September 1939 und der Einstufung als „enemy aliens“ kamen Meldepflicht und Ausgangssperren und oft auch Internierung hinzu. Bei einem Verstoß gegen die auferlegten Beschränkungen drohten nicht selten Schwierigkeiten — gerade bei Arbeitsbewilligungen und Reiseerlaubnissen. Im Bewußtsein als Flüchtling auch eine unerwartete und unerwünschte Belastung für den britischen Arbeitsmarkt zu sein, konnte der Dichter der Vorsicht und latent vorhandenen Angst bis zu seinem Tod nicht entgehen. Wie viele Schriftsteller sehnte sich auch Theodor Kramer nach Lesern, scheute aber gleichzeitig vor Kritik zurück. Gerade gegenüber der Literaturwissenschaft schien der Dichter Mißtrauen zu haben — was augenscheinlich die größte Differenz zwischen dem modernen Vertreter der (anglikanischen) Germanistik und dem aus einem konservativen Verhältnis von Wissenschaft und Dichtung geprägten Lyriker ausmachte. Die Zurückhaltung Theodor Kramers bei der kritischen Bewertung seines lyrischen Schaffens durch die Literaturwissenschaft dokumentiert besonders aufschlußreich das Beispiel des jungen amerikanischen Studenten Lenny Rosenfield, der eine „honors thesis“ über Kramer für sein Bakkalaureat schrieb. Zohn vermittelte bereits kurz nach Beginn seiner Bekanntschaft mit Kramer seinen Studenten Einsicht in das Leben und Werk des Dichters. Eine Textpassage aus dem Brief vom 25. Mai 1952 verweist das erste Mal auf diese Gegebenheit:"' 10 Dass Ihre Studenten sich für meine Arbeit interessieren, freut mich, und es ist die einzige gute Nachricht, die ich seit längerer Zeit habe. Im Herbst 1954 informierte Zohn den Lyriker Kramer, daß nun einer der Studenten an einer längeren Studie über ihn arbeite. Der Dichter bekundete zwar Interesse, sah sich aber aufgrund seiner psychischen Verfassung — Kramer wurde erst kurz zuvor aus einem Sanatorium (er litt unter Depressionen und Gedächtnisstörungen) auf Revers entlassen'” — nicht in der Lage, dem Studenten Auskunft zu erteilen:' Es freute mich, dass einer Ihrer Studenten eine These über mich schreibt. Ich kann jedoch ihm keinerlei Rat geben. Wahrscheinlich habe ich es aufgegeben, Gedichte zu schreiben; jedenfalls verstehe ich dzt gar nichts von meinen Gedichten. [...] Nochmals bitte ich Ihren Studenten, mir nicht zu schreiben. Wahrscheinlich hat er dies bereits getan, und in diesem Fall legen Sie ihm klar, weshalb ich seinen Brief retournieren werde. Nachdem sich Kramer anscheinend ein wenig erholt hatte, dürfte ihn Harry Zohn ein weiteres Mal um seine Mithilfe gebeten haben. Im Brief vom 29. Dezember 1954 schreibt er diesem ausweichend:"* Ich weiss nicht, was Lenny Rosenfield wissen will; vielleicht kann ich ihm Auskunft geben. Zu meinen Mss usw hab ich keinen Zutritt, und dies wird nicht vorm Frühjahr der Fall sein, falls überhaupt. In den darauffolgenden Schreiben teilte der Dichter Zohn stets kurz und prägnant mit, von dem Studenten nichts gehört zu haben. Im Brief datiert vom 1. Februar 1955 bekundet Kramer noch einmal seine Hilfsbereitschaft:' Hoffentlich kann ich Rosenfield die gewünschten Auskünfte geben. Ich hab meine Originalhefte nicht bei mir" und hätte auch kaum Platz alle wieder zurückzunehmen, obwohl ich die aus den letzten Jahren bald brauchen werde. Da Kramer auch in der Folge immer wieder darauf hinwies, weiterhin keine Nachricht von Lenny Rosenfield bekommen zu haben, scheint ihm Zohn mitgeteilt zu haben, daß ihm sein Student längst geschrieben hätte. Der Dichter entgegnete am 31. März 1955:" „Der Brief Ihres Studenten ist bestimmt verloren gegangen.‘ Und im Brief vom 15. April 1955 bemerkt Kramer: „Von Ihrem Studenten hab ich keinen Brief, und es wird auch wohl keiner mehr kommen.“ Mit den Worten „es wird auch wohl keiner mehr kommen“ schließt Kramer fürs erste das für ihn anscheinend so unangenehme „Kapitel“ Lenny Rosenfield. Die Beweggründe, weshalb der Dichter — und das im Prinzip schon von Beginn an — dem Studenten nicht helfen wollte, sind weder aus dem Briefwechsel noch aus anderen Quellen zu erfahren. Ob Kramer jemals ein Brief von Rosenfield erreichte, kann an dieser Stelle ebenfalls nicht beantwortet, darf aber vermutet werden. Aus dem Briefwechsel geht hervor, daß Kramer allerdings die fertige „Thesis“ — offenbar auf Fürbitte Harry Zohns — doch lesen wollte.'? Da der Dichter die Arbeit aber bis Ende November des Jahres nicht bekommen hatte — und Rosenfield ihm diese vermutlich auch niemals schickte — reagierte er darauf selbstgefällig und beinahe beleidigt; Zohn gegenüber bemerkt Kramer:” Ich weiss nicht, was der Brauch ist; wenn ich über einen lebenden Autor eine Doktorarbeit geschrieben hätte, so hätte ich sie ihm geschickt. Doch wir leben in einer anderen Zeit. Die monomanische Selbstbezogenheit Kramers mag den Leser der Briefe befremden. In ihr artikulieren sich aber die leidvollen Erfahrungen der Emigration, Isolation und Krank