OCR
Was ich Ihnen hier vortrage, ist eine Erzählung der einfachsten Art. Einfach, aber aufregend. Sie beginnt am 3. September 1939. Die Hitlerarmee war in Polen eingefallen und der Zweite Weltkrieg offiziell ausgebrochen. Man soll aber nicht glauben, daß es in Paris irgendeine Begeisterung gab; die Franzosen waren nicht auf Krieg eingestellt. Deshalb hatten sie ja auch schon das Münchner Abkommen, durch das Daladier und Chamberlain die Tschechoslowakei preisgegeben hatten, mit einem Gefühl „feiger Erleichterung“ begrüßt, wie L£on Blum im „Populaire“ schrieb. Franzosen und Engländer hatten Chamberlain geglaubt, der nach der Kapitulation von München bei seiner Ankunft auf dem Londoner Flugplatz einen weißen Zettel schwenkte und rief: „Peace for our time!“ Es war eine kurze Zeit geworden: ein knappes Jahr. In rascher Folge tauchten vielsagende Plakate auf: Generalmobilmachung, „Schweigen ist die Losung!“, „Gasmasken holen“... Nur Franzosen besaßen ein Recht auf eine solche Maske. Durch einen anderen Plakatanschlag wurde das gewissermaßen relativiert: „Die Staatsbürger der feindlichen Mächte werden eingeladen, sich an bestimmten Plätzen einzufinden, um dort registriert und interniert zu werden.“ Merkwürdig schien mir dabei, daß auch die Österreicher, genauer gesagt die Ex-Österreicher, zu den feindlichen Ausländern gerechnet wurden, und so auch ich. Denn wie die meisten in Frankreich Asyl suchenden Landsleute war ich schon in den ersten Tagen nach der Annexion Österreichs zur Präfektur gelaufen, um dort zu erklären, daß ich auf keinen Fall ein Staatsbürger des Dritten Reiches sein wolle. Diese Willenskundgebung war von den französischen Behörden auch zur Kenntnis genommen worden, und diejenigen, die so eindeutig ihren Willen ausgedrückt hatten, nicht mit, sondern gegen Hitler zu sein, hatten den Titel oder die Qualität eines ExAutrichien erhalten. Ich war auf diesen Vermerk in meinem Aufenthaltsdokument nicht wenig stolz. Trotzdem war ich ein feindlicher Ausländer geworden und hatte mich als solcher zu „melden“, um interniert zu werden. Große Lust dazu hatte ich nicht, doch nach Beratung im Freundeskreis beschlossen wir, der Aufforderung zu folgen. Der Treffpunkt hieß „Stade de Colombes“, ein Fußballstadion. Am folgenden Morgen stellte sich unsere Gruppe an dem bezeichneten Eingangstor an, doch so einfach war das nicht. Denn von Organisation war keine Spur. Die „feindlichen Ausländer“ ballten sich vor den Toren, als ob ein jeder so schnell wie möglich interniert werden wollte — vielleicht wegen der besseren Plätze im Stadion, wie bei einem Matchbesuch. Dies gab mir Gelegenheit, meine zukünftigen Schicksalsgenossen zu beobachten. Es war tatsächlich ein „bunter Haufen“, Menschen jeden Alters (von 17 bis 65), aus allen Gesellschaftsklassen, und wie sich bald herausstellen sollte, auch ganz verschiedenen Gemütes: Aufgeregte und Gefaßte, Stille und Schreiende, Wichtigtuer und Bescheidene. Einmal eingelassen, steigerten sich diese Charaktereigenschaften. Obwohl die Bedingungen für alle völlig gleich waren: Holzbänke und sonst nichts, kam es zu erregten Zwistigkeiten um die Besetzung der Bänke; viele wollten sich gleich ein „Territorium“ sichern, für das sie überhaupt keine Verwendung hatten. Doch will ich rückblickend meine damaligen Schicksalsgefährten nicht herabsetzen. Es gab Gründe zur Aufregung. Einmal im Inneren des Stadions, waren die Menschen einfach ihrem Schicksal überlassen. Es war für die meisten das erste Lager, das sie kennenlernten und mit ihm auch die Technik französischer Lager: um den Stacheldraht herum - in Colombes genügte die Stadionumfassung — eine spärliche Wachmannschaft, und im Inneren: Nichts, buchstäblich nichts. Da lagen wir nun, unter freiem Himmel, ohne Verpflegung (die wir für zwei bis drei Tage mitbringen hätten sollen), ohne Wasser, ohne sanitäre Einrichtungen — die Klos des Stadions waren rasch unbrauchbar geworden. Menschen, die aus ihrem zivilen Alltag herausgerissen waren, erlagen rasch dem Trauma der Eingeschlossenheit; beim Vorbeiflug von Flugzeugen glaubten sie gleich, nun würden sie bombardiert; es kam zu hysterischen Ausbrüchen und viele wurden regelrecht wahnsinnig. Ich war froh, inmitten einer Gruppe von Freunden zu sein, denn es gab auch Aggressive unter den so primitiv Verwahrten; zu größeren Gewalttätigkeiten kam es nicht. Wir hatten Glück, wir blieben nur wenige Tage; dann wurden wir in alte Waggons verfrachtet und westwärts ging es in Richtung Bretagne. Dort sollten wir erfahren, daß die Lagertechnik der französischen Administration auf dem Lande noch einfacher war als in Paris. Was ich Ihnen bis jetzt erzählt habe, stammt nur aus meiner Erinnerung. Doch die Erinnerung täuscht, das Gedächtnis täuscht, und man hat von den Ereignissen, auch wenn sie unangenehm waren, oft eine bessere Erinnerung, als es der Realität entspricht. Aus dem Buch des Historikers Ernst Schwager will ich Ihnen eine Stelle zitieren: In Colombes zum Beispiel mußten manche Flüchtlinge vor dem Lager einige Tage auf ihre Aufnahme warten und standen bald ohne Nahrungsmittel vor der Umzäunung. Im Lager selbst wurden die Emigranten in fünf Gruppen aufgeteilt: die sogenannten reichsdeutschen Flüchtlinge, über 2.000, weiters Flüchtlinge aus dem Saargebiet, rund 300, an die 1.400 österreichische Flüchtlinge und schließlich „normale“ deutsche Staatsangehörige, die man also mit Recht als feindliche Ausländer bezeichnen konnte (300-400), und dann eine Gruppe zwei bis drei Dutzend „Suspekter“ [wessen sie verdächtigt wurden, bleibt mir bis heute unklar]. Alle wurden sie auf den Sitzbänken des Stadions untergebracht, für die Nacht gab es etwas Stroh auf den Betonstiegen. Die sanitären Anlagen (Duschen und WCs) waren ausschließlich den Wachmannschaften vorbehalten. Für die 4.500 Internierten gab es Blechkübel als Klosetts, die aber bald überfüllt waren... Als Verpflegung gab es ausschließlich [Konserven von] Gänseleberpastete und Brot. Diese Pastete — ansonsten eine Spezialität — konnte von vielen Menschen nach der ersten Woche nicht mehr gegessen werden, weil ihre Mägen diese Speise nicht mehr verkrafteten. Aus den Aufzeichnungen Schwagers erfuhr ich, daß wir am 17. September in das Lager von Meslay du Maine in der Bretagne verbracht wurden. Wir waren also ganze zwei Wochen in dieser ersten Station gewesen. Zweite Station: Meslay du Maine Nach ein paar Stunden zuckelnder Reise hielt der Zug; ich sah keinen Bahnhof, nur Wiesen und Kühe. Wie Kühe wurden wir 13