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auch ausgeladen, mußten uns in einer Reihe aufstellen und die erste Rede des Kommandanten des vorläufig noch unsichtbaren Lagers anhören, ein ziemlich bejahrter Hauptmann, Kriegsverletzter aus dem Ersten Weltkrieg, wie er uns einleitend mitteilte, der im Umgang mit Internierten Erfahrung hatte — das war die zweite Information. Die dritte war ermutigend: Wenn wir brav seine Anordnungen befolgten, hätten wir nichts zu befürchten. Er werde die Genfer Konvention genau einhalten. Ich muß sagen, daß dies in der Folge auch wirklich so war. Am Schluß der Rede wies uns der Kommandant an, nun den Wachen ins Lager zu folgen. Brav gingen wir den Wachen hinterher in Richtung einer etwas abschüssigen Wiese. Nun hieß es „Halt!“ Wir seien angekommen. Angekommen wo? Weit und breit nichts als eben die Wiese. Keine Aufregung, befahlen die Wachen und teilten ein paar kräftige Internierte zu den ersten „Corv&es“, Arbeitskommandos, ein, die das nötige Material holen sollten. Eine Stunde später rückten die Kollegen wieder an: beladen mit Planen, Latten und Werkzeugen, um Zelte zu errichten. Mir ist die „Errichtung“ des Lagers völlig aus dem Gedächtnis entschwunden. Daher greife ich wieder — zum letzten Mal, denn meine weiteren Stationen sind bisher in keiner Aussage festgehalten worden — auf meine Gedächtnisstütze Ernst Schwager zurück: /m Lager von Meslay, das von Mauern und Stacheldraht umzäunt war, befanden sich zirka 1.400 Österreicher, 300 Flüchtlinge aus dem Saarland und 300 deutsche Staatsbürger. Zunächst existierten noch keine Unterkünfte, sondern es gab nur einzelne Bretter, doch nach einer Woche wurden Zelte von Jahrmarktsbudenbesitzern requiriert und den Internierten zur Verfügung gestellt. Da die Anzahl der Zelte nicht reichte, schliefen viele Internierte im Freien. Jede Person hatte Tag und Nacht für sich und das Gepäck 33 cm in der Breite und 2 m in der Länge Platz zur Verfügung. Zum Trinken, Waschen, Zähneputzen und Geschirrwaschen wurden ein halber Liter Wasser täglich an die Internierten abgegeben. |Ich weiß nicht, woher Schwager diese Informationen hat, möchte aber ergänzen, daß eine der Grenzen des Lagers von einem Bach gebildet wurde, in dem man, da dessen Wasser rein war, eintauchen und sich waschen konnte — wenn man nicht allzu kälteempfindlich war.] Die Zelte waren nicht wasserdicht und infolge des Regens, der Kälte und der einseitigen Ernährung sowie der allgemeinen psychischen Depression gab es zahlreiche Krankheitsfälle. Oft brachten die Frauen (die ja nicht interniert waren) vergeblich Eßpakete, da die Auslieferung völlig von der Willkür der Lagerwache abhängig war. Dazu möchte ich bemerken: Es stimmt, die Ernährung war einseitig, es gab nahezu täglich Beefsteak und pommes frites, — oft hörte man einen zornigen Ausruf: Schon wieder Beefsteak! In den zwei Jahren 1937 bis 1939 in Paris war meine Ernährung eher dürftig gewesen. Wie oft sollte ich mich, in den folgenden Lagerstationen, an diese „einseitige Ernährung“ von Meslay mit Nostalgie erinnern! Wichtiger als die äußeren Umstände war mir zu jener Zeit aber, daß es in der österreichischen Gruppe zahlreiche Geistesmenschen und Künstler gab, deren Gesprächen ich lauschte. So war ich zum Beispiel fasziniert, wenn der konservative Historiker Walther Tritsch mit dem kommunistischen Philosophen Franz Marek über die Aufgaben des künftigen Österreich diskutierte, oder wenn der Maler Heinrich Sussmann, den ich noch in Paris kennengelernt hatte, und Egon Neumann, der den Chor der von mir gegründeten österreichischen Jugendgruppe geleitet hatte, sich darauf vorbereitete, in Meslay ein Kabarett gemeinsam mit Karl Farkas und anderen bekannten Schauspielern aufzuführen. Ich sah auch, doch nur von weitem, Kurt Blau14 kopf, dem ich mich nicht zu nähern wagte, war ich doch von meiner persönlichen Bedeutungslosigkeit zutiefst überzeugt. Erst vor wenigen Jahren habe ich Kurt Blaukopf näher kennengelernt und war sehr schnell mit ihm und seiner Gattin in echter Freundschaft verbunden. Von diesem zu früh verstorbenen Begründer der Musiksoziologie in Österreich habe ich in kurzer Zeit viel gelernt. Einer meiner besten Freunde jener Zeit, schon in Paris, aber auch im Stadion von Colombes und in Meslay, der mich vor mancher Aggression energisch in Schutz nahm, hieß Ernst Blaukopf, ein ungewöhnlich sympathischer und aufgeweckter Bursche. Er hatte einen Bruder namens Kurt. Beide haben in der jüngsten Geschichte Österreichs eine würdige Rolle gespielt. Die beiden Brüder Blaukopf sind in die Resistance gegangen. Ernst wurde als Partisan von den Nazis ermordet und ruht auf dem Friedhof von Montmartre und man kann dort sein Grab, versehen mit einer ehrenden Inschrift, besuchen. Noch eine Erinnerung ist mir teuer: In Meslay habe ich zum ersten Mal in meinem Leben den Vortrag eines Liedes in jiddischer Sprache gehört, dessen Musikalität mich tief bewegt hat. Dieses Lied, Musik, Sprache und Text, liegt mir noch heute im Ohr, und auch der Sänger: er hieß Otto Wolf und wurde nach dem Krieg unter dem Namen Peter Loos ein bekannter Regisseur und Übersetzer französischer Theaterstücke. Die in Meslay internierten Österreicher hatten mehrere Möglichkeiten, dem Lager zu entkommen: sie konnten sich zu einer sogenannten Arbeitsgruppe, als „prestataires“, „Dienstleistende“ melden, die mit einem halbmilitärischen Status, betitelt wurden; eine weitere Möglichkeit, für welche die französischen Behörden große Propaganda machten, bestand in der Meldung zur Fremdenlegion, vor der viele zurückschreckten, in der Sorge, sie müßten nach Kriegsende ihre fünfjährige Verpflichtung weitererfüllen. Die Sorge war jedoch unbegründet, weil der Krieg sowieso fast fünf Jahre gedauert hat. Schließlich gab es noch eine dritte Möglichkeit: Es war die, sich für die Dauer des Krieges zu verpflichten, wie ein französischer Staatsbürger. Für mich persönlich gab es schließlich eine vierte Möglichkeit, zu der mir mein steifes Bein verhalf, das mir bis dahin in meinem damals noch kurzem Leben so viele Nachteile eingebracht hat. Sein Zustand verschlechterte sich derart, daß mir meine Freunde rieten, mich ins Lagerspital transferieren zu lassen, das in einem alten Kloster in der Nähe untergebracht war. Dort angekommen, traf ich meinen Freund Dr. Zobel, der dem Spital als Hilfsarzt zugeteilt war, wobei ihm jedoch sein französischer Vorgesetzter die ganze ärztliche Arbeit überließ. Diesen Umstand hatte ich zu verdanken, daß ich bald „lagerunfähig‘ erklärt wurde: inapte au camp. So unfähig sich die Dritte Republik gezeigt hatte, zwischen feindlichen und freundlichen Ausländern zu unterscheiden, indem sie alle kunterbunt in Lagern zusammengefaßt hatte, um dann mit Verspätung herausfinden zu wollen, wem zu trauen und wem zu mißtrauen war, so beachtete sie dennoch — wenn auch nur vorläufig, denn in den Lagern von Gurs, Vernet, St. Cyprien und anderen war die Menschlichkeit kein Maßstab mehr, die noch geltenden Regeln. So kam es, daß ich Mitte Dezember wieder in Paris eintraf und von den Frauen der noch Internierten als Vorbote weiterer Befreiungen begrüßt wurde. So endete meine zweite Lagerstation und ich versäumte nicht, mich rasch in die „Caserne Reuilly‘ zu begeben, um dort meine freiwillige Verpflichtung für die Dauer des Krieges zu unterschreiben. Dafür war ich nicht mehr „inapte“, sondern bloß „reformiert‘“, was ich wiederum meinem steifen Bein zu verdanken hatte. Als ich lange nach Kriegsende ein Zeugnis für meine