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Kriegsdienste brauchte, zwecks Pragmatisierung im französischen Hochschuldienst, erhielt ich dieses überraschenderweise in der Kaserne Reuilly-Diderot. In diesem Zeugnis war alles genau registriert: meine Meldung als Freiwilliger für die Dauer des Krieges, meine Internierungen, mein Eintritt in die Resistance. Inzwischen war Frankreich besiegt, besetzt und befreit worden, doch die Archive hatten Krieg, Besetzung und Befreiung überlebt. Nicht wir Menschen, die Archive machen Geschichte! Das dritte Lager: Recebedou Die Besetzung Frankreichs im Mai/Juni 1940, die rasche Kapitulation der Regierung Petain, die vom gleichen Parlament eingesetzt worden war, das 1936 die Volksfront-Regierung Leon Blums installiert hatte, die Abschaffung der Republik und Errichtung des „Französischen Staates‘ mit Petain als einziger verfassungsgebender Instanz, die Verkündigung des ,,Judenstatuts“, das sogar die Nürnberger Gesetzte übertraf, das alles hatte sich blitzartig abgespielt. Mich hatte die Welle des Exodus bis nach Toulouse gespült, wo ich mit anderen flüchtigen Studenten ein vorläufiges Asyl in der Feuerwehrkaserne der rue Bernard Mulé gefunden hatte. Bald wurde ich auch mit jungen Franzosen bekannt. Besonders beeindruckt hat mich der junge Claude Dreyfus, eine brillante Intelligenz. Als er erfuhr, daß ich ein österreichischer Antifaschist sei, der in Österreich von der Regierung des autoritären Regimes eingesperrt und dann aus allen Schulen verjagt worden war, bedrängte er mich mit Fragen darüber, wie man illegalen Widerstand organisieren könne, und bald war ich Berater einer ganzen Gruppe von Studenten, die ohne Verzug mit der Herstellung und Verbreitung von antipetainistischen Flugblättern und mit Mundpropaganda unter den Studenten begann. Claude ist bald verhaftet und deportiert worden. Er ist nie zurückgekommen. Einen anderen Freund gewann ich in der Person des später berühmt gewordenen Edgar Morin, den ich bis heute manchmal treffe. Doch offenbar hatte ich trotz Petain noch Illusionen. Mein Aufenthaltspapier — die I-Karte — war in Ordnung, lief aber ab, und so ging ich denn wie ein harmloser simplizistischer Trottel zum Kommissariat, um es verlängern zu lassen. Ich wurde gleich dort behalten: es lag ein Haftbefehl gegen mich vor: wegen subversiver Tätigkeit, die aber nicht weiter spezifiziert war. Sehr höflich wurde ich in das Militärgefängnis St. Michel geführt, wo ich nun längere Zeit verbringen sollte. Da ich heute nur über meine Lagerstationen berichten will, muß ich Sie — und mich — des Vergniigens berauben, diese Episode im Gefängnis zu beschreiben. Nur ein interessantes „Detail der Geschichte“ sei hier mitgeteilt: Es kam zu einem Prozeß vor dem Militärgericht, der einigermaßen „ubuesque“ verlief. Da es keine präzis formulierten Vorwürfe gegen mich gab, die ich indes sehr präzise ableugnete, forderte der Militärstaatsanwalt von sich aus Freispruch. Die Tatsache, daß ich in den knapp 15 Monaten meiner Anwesenheit zwei Unidiplome erworben hatte, überzeugte ihn von meiner Harmlosigkeit. Die wohlwollenden Militärrichter hatten jedoch die Rechnung ohne den Regionalpräfekten Chenaux de Leyritz gemacht — welch preußisch klingender Name für einen französischen Präfekten — für den ich gerade durch meine Diplome verdächtig war, der stante pede meine Internierung anordnete. Recebedou schien bis vor kurzem in keiner Lagerdokumentation auf. Eigentlich gab es zwei Lager: Ein weites Areal war den Familien vorbehalten, das heißt, daß dort hauptsächlich jüdische Menschen untergebracht waren, denen man nichts anderes vorwerfen konnte, als daß sie eben Juden ohne Papiere waren. Sie wurden als harmlos betrachtet und ihr Regime war daher nicht streng. Rückblickend bin ich zur Erkenntnis gekommen, daß von der Vichy-Regierung dort „vorsorglich“ eine Reserve von Menschen angelegt wurde, ein menschlicher Vorrat für die Deportierungswünsche der deutschen Besatzer, die ihre Vernichtungsmaschine mit immer neuen Opfern nähren wollten. Doch inmitten dieses ausgedehnten Areals stand ein richtiger Käfig, dessen Wände solide Drahtgitter waren, durch die auszubrechen schwierig schien. Außerdem „verfügte“ der Käfig über eine starke Wachmannschaft in blauen Uniformen: Es war der Ordnerdienst der Legion des „Mare&chal“, aus dem nicht viel später die Miliz des SS-Führers Darnand hervorgehen sollte. Sie benahmen sich dementsprechend. Sofort nachdem ich in diesen Käfig eingeliefert worden war, erhielt ich wegen meines provozierenden Äußeren die ersten Schläge. Der Käfig war so eng, daß für jeden praktisch nur der Strohsack als Lebensraum vorgesehen war. Einer lag über dem anderen und so kam es zu Konflikten, die oft lebensgefährlich waren. Ein echter Wiener „Galerist‘‘ nahm sich meiner an und beschützte mich vor den physischen Angriffen von Internierten, die dem psychischen Druck nicht gewachsen waren. Außerdem lernte ich einen deutschen Matrosen kennen, „Jean“, der aus politischen Gründen eingesperrt war. Ich sollte ihn kaum zwei Jahre später unter ganz furchtbaren Umständen wiedersehen. Um dem Käfig zu entkommen, meldete ich mich am Sonntag zum Psalmensingen bei den protestantischen Gottesdiensten. Die Wachen begleiteten mich zum Gottesdienst, wo mich der Pastor nach meiner Religion fragte. Von der Schule her wußte ich noch, daß es ein Augsburgisches und ein Helvetisches Bekenntnis gibt, und antwortete, ich sei ,,de confession augsbourgienne“. Der Pastor, der sofort verstanden hatte, daß ich weder A.B. noch H.B. war, lud mich freundlich ein, Platz zu nehmen und ich durfte mitsingen, indem ich im Liederbuch eines Nachbarn mitlas. Dieser Bethausbesuch war fast die einzige Möglichkeit, dem Käfig zu entkommen. Fast, denn jede zweite Woche durfte mich meine Frau Denise besuchen und mir ein kleines Paket übergeben. Man wurde zum Lagerausgang geführt, wo die Besuche bzw. Besucherinnen warteten. Das war 1942, vor bald sechzig Jahren. Auch heute noch nährt mich Denise, nach all den Stürmen unseres Jahrhunderts. Doch sie tat noch mehr für mich. Damals begann die Vichy-Regierung mit der Auslieferung aller unliebsamen Personen, zu deren Kreis ich gehörte, an den Moloch der Shoa. Wieder mußte mein Bein herhalten; ich erhielt von zwei jungen Ärzten, beide Flüchtlinge, einer aus Rumänien (Roger Tauber), der andere aus Ungarn (Stephane Barsony), die dank dem kommunistischen Professor Ducoing im „HötelDieu“ arbeiten durften, ein Zeugnis, daß meine Hüfte unbedingt operiert werden mußte. Wieder kam ich ins Spital, wo ich tatsächlich operiert und eingegipst wurde. Drei Monate war ich so inmobil, und als mir Ende Oktober der Gips abgenommen wurde und die Rehabilitation begann, sah schon die Polizei nach mir, um mich abzuholen. Wohin? Ich konnte es nur erraten. Wieder griff Denise ein: Sie hatte Verbindung zu einem patriotischen Priester, dem Abbé de Naurois, und noch vor dem nächsten Polizeibesuch konnte ich am Arm dieses Priesters bei einem Hinterausgang das Spital verlassen, die Straßenbahn besteigen und dann, von zwei Seiten gestützt, einen langen Fußmarsch bis zu einem Bauernhof unternehmen, wo ich dank des Abbe de Naurois zunächst Zuflucht fand, um mich im Gehen zu üben und auf falsche Papiere zu warten, die mir den Eintritt in die Resistance ermöglichen sollten. So endete meine dritte Lagerstation... 15