OCR
Die vierte Station: Compiegne Das Gefängnis von Lyon, Montluc, hatte einen sehr schlechten Ruf: Es galt als besonders grausamer Aufenthalt, von unerbittlichen deutschen Soldaten bewacht. Und doch erschien es mir als ein Paradies, als ich im April 1944 dort eingeliefert wurde; ich kam direkt vom Gestapo-Keller der berüchtigten „Ecole de Medecine“, wo Barbie und andere Gestapisten ihres Henkeramtes walteten. Meine zwei Zellengenossen waren nicht wenig erstaunt, als ich sofort nach meiner Ankunft begann, alle damaligen Schlagerlieder zu singen; ich mußte singen, um die Qualen meiner Folterungen zu verdrängen. Im Paradies fühlte ich mich deshalb, weil ich der Gestapo entronnen war, ohne „gesungen“ zu haben, und weil der deutsche Sanitätsgefreite meine zahllosen Wunden so gut behandelte, daß ich nach einigen Tagen wieder zu mir kam. Das war notwendig, denn kaum eine Woche nach meiner Ankunft wurde ich aufgerufen: Lebrun — Abmarsch vorbereiten! Die Sachen waren rasch gepackt und schon stand ich mit ein paar hundert anderen im Hof. Im Hof wurde die Marseillaise gesungen, ohne daß sich einer der Wachsoldaten einmischte, dann kamen die Lastwagen und „auf“ hieß es, zum Bahnhof. Das Ziel der Reise war Compiégne. Im Zug befand sich auch Denise. Ich erreichte, daß ein SS-Bewacher, den ich als Kärntner identifiziert hatte, der über meine Deutschkenntnisse gerührt war, mich ein paar Minuten mit Denise sprechen ließ. Ich konnte ihr zuflüstern, daß sie, was immer kommen möge, den Mut nicht verlieren dürfe, denn „oncle Joseph“ habe gesagt, daß in sechs Monaten das Dritte Reich besiegt sein werde. Onkel Joe hatte sich nur um sechs Monate geirrt, doch vielleicht hat seine Voraussage dennoch manchem Deportierten den Mut zum Ausharren gegeben. In Paris kamen die Frauen nach Romainville, die Manner nach Compiégne. Wieder hieß es, sich auf ein anderes Lagerregime umzustellen. Doch das dauerte nur ein paar Tage; die Deutschen hatten es jetzt eilig; so wurde denn unser Transport um den 10. Mai herum zusammengestellt und verfrachtet. Die Transportverhältnisse sind bekannt; doch als wir nach dreitägiger Fahrt ankamen, und ich die Gesichter meiner Gefährten wiedersah, boten die meisten den Anblick von Greisen; viele waren wahnsinnig geworden und viele mehr noch kamen als Leichen an. Es gab den üblichen SS-Empfang mit Geschrei und Gebell von Wolfshunden und wir setzten uns in Marsch. An einer Wegkreuzung sah ich eine Hinweistafel: Buchenwald. Der Vers aus Dantes Komödie fiel mir ein: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren.“ So begann die fünfte Etappe meiner Peregrination. Über dem Eingangstor stand „Jedem das Seine“ oder war es „Arbeit macht frei“ — ich weiß es nicht mehr, doch man kann es in jeder Buchwald-Dokumentation nachlesen. Beide Sprüche gehören zum ehernen Bestand der Nazi-Ästhetik. Es war Mitte Mai als unser Transport durch das Lagertor wankte. „Im Laufschritt marsch!“ Und es fiel eisiger Schnee! Auf der dreitägigen Reise von Compiegne nach Weimar waren wir buchstäblich entwässert worden — dehydriert. Der Durst hatte viele wahnsinnig gemacht; als wir nun durch das Tor mit der symbolischen Inschrift schritten, lag vor uns ein freier Raum — wir wußten noch nicht, daß es der Appellplatz war, wo große, mit Wasser gefüllte Bottiche aufgestellt waren. Viele der völlig entwässerten Kameraden stürzten sich auf die Bottiche und schlürften in großen Zügen das Naß, trotz des ihm anhaftenden Chlorgeruchs. Ich aber erinnerte mich der oftmaligen Warnungen meiner Mutter: Nicht hastig trinken, besonders wenn man erhitzt und besonders durstig ist. Ich tat gut daran. Viele 16 meiner Kameraden wurden schwer krank: Gastro-Enteritis, wienerisch gesagt: schwere Scheißerei und Brechdurchfall. Die allgemeinen Zustände in Buchenwald sind, sollte man meinen, in den letzten fünfzig Jahren allmählich bekannt geworden. Dennoch erlauben sich gewisse Playboy-Politiker, von einfachen Straflagern zu plappern. Dabei ist das Höchste, das sie sich zutrauen, gummigesichert von einer Brücke zu springen. Buchenwald aber war als eines der grausamsten Lager bekannt — ich weiß nicht mehr, ob Stufe II oder III. Jedenfalls fühle ich mich moralisch verpflichtet, hier einige jener Folterarten zu erwähnen, die dort gebräuchlich waren und Hunderte Insassen des Lagers vom Leben zum Tode beförderten. An der Spitze stand der Bock. Wer „über den Bock gespannt“ wurde, zitterte mit Recht: War er doch dazu verurteilt, 25 oder gar 50 Schläge, verabreicht mit einem dicken Prügel oder einem Ochsenziemer, über sich ergehen zu lassen, sehr oft auf das nackte Gesäß. Die Henkersknechte wurden unter den stärksten und brutalsten SSLeuten ausgewählt. Beim Schlagen mußte das Opfer laut und deutlich mitzählen. Fiel es in Ohnmacht, wurde alles wieder von vorne begonnen. Nach diesem barbarischen Strafakt mußte das Opfer in strammer Haltung dem SS-Kommandanten Meldung über den Strafvollzug machen. Die sadistischen Gehirne der arischen Edelmenschen verlangten jedoch nach Variationen. Einem Bericht darüber entnehme ich folgende Zeilen: Eine der schlimmsten Strafen war das Hängen. Dabei mußte das Opfer auf einem Schemel steigen, seine Arme wurden nach hinten auf den Rücken gezogen und mit einem Strick an einem Nagel in zwei Meter Höhe befestigt. Dann stieß der SS-Mann den Schemel weg, worauf der Körper nach hinten sackte. So hingen die Bestraften oft mehrere Stunden lang. Die überwachenden Folterknechte prügelten die Hängenden mit ihrer Reitpeitsche... Mitunter hingen an den Bäumen bis zu hundert Gefangene, deren schreckliches Jammern weithin zu hören war. Die Folgen dieser Folter war der Verlust der Armkraft auf Lebenszeit, die jedoch für die meisten nur mehr kurz bemessen war: sie wurden bereits tot vom Baum genommen. Noch eine Strafart muß erwähnt werden, wobei jedoch die Liste beileibe nicht vollständig ist. Es war das Stehen mit dem sogenannten „Sachsengruß“. Dabei mußten beide Hände hinter den Nacken gelegt und dort verschränkt werden. Da man knapp an der Mauer stehen mußte, machte sich die SS einen Spaß daraus, ihre Opfer im Vorbeigehen an die Wand zu stoßen, was natürlich Nasen und Stirnen blutig aufriß. Wehe dem, der die Hände dabei herunternahm. Das Strafestehen war noch dazu mit Essensentzug verbunden. Ganz Blöcke, oft auch das ganze Lager waren zu vielen Stunden Strafestehen verurteilt. Verschärft wurde dieses stundenlange Stehen dadurch, daß die Gefangenen auch noch singen mußten. Auf dem Appellplatz gab es ein kleines, mit Stacheldraht abgegrenztes Areal, „Rosengarten“ genannt. Die ganze Woche wurden Gefangene notiert, die sich in den Augen der SS irgend etwas zuschulden kommen ließen, wie zum Beispiel „zu langsames Arbeiten“ oder „schlampiges Grüßen“. Am Sonntag mußten sich die aufgerufenen Häftlinge auf diesem Platz stramm aufstellen, ohne sich zu rühren — das waren dann die Rosen. Der Buchenwalder Franz Ott, dem das widerfahren ist, beschreibt es: „Mich erwischte es zu Führers Geburtstag 1941. Gemeinsam mit 50 oder 60 Mann wurde ich aufgerufen, mußte am Tor antreten und im ‚Rosengarten’ im Abstand von fünf Metern vom Nächsten mit den Händen an der Hosennaht Aufstellung nehmen... Nach zwölf Stunden kam der Befehl: ‚Im Laufschritt auf die Blocks!’ Aber nach 12stiindigen