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Strammstehen plötzlich laufen, das hielten viele nicht aus. Sie fielen um. Sie wurden von der SS auf eine Art wachgerüttelı, die manchen von den ‚Rosen’ das Leben kostete. Doch das Schlimmste war der Bunker. Bis zum Jahre 1943 bedeutete eine Einlieferung in den Bunker meist den Tod. Ihm ging aber oft eine monatelange Quälerei voraus. Der dort als Aufseher fungierende SS-Scharführer Sommer hat allein innerhalb von sechs Monaten 150 Gefangene erwürgt oder auf andere Art getötet. Die KZler waren selten wegen grober Vergehen im Bunker. Was kann denn auch im KZ als „Vergehen“ begangen werden? Eine Kleinigkeit genügt, dorthin zu kommen und ermordet zu werden, daß man etwa bei der Arbeit einen Augenblick lang stehenblieb und ausruhte. Wenn ich daran zurückdenke, muß ich gestehen, daß ich keine dieser vier Hauptquälereien überlebt hätte. Auch das alltägliche Lagerlos war schon arg genug. Hier gab es keine „Lagerunfähigkeit‘“ mehr, im Gegenteil, ich mußte den ganzen Tag über beweisen, daß ich sehr lagerfähig war, womöglich im Laufschritt. Diesmal war mein steifes Bein ein großer Nachteil. Jeder ungerade Schritt konnte, ja mußte für mich die Gefahr bedeuten, „durch den Rauchfang zu gehen“, wie es in der Lagersprache hieß. Das hieß natürlich, daß noch eine Zwischenstation bevorstand: das Krematorium, die Verbrennung bei oft noch lebendigem Leib. Zu meinem Glück habe ich die vier beschriebenen Hauptfolterarten vermeiden können, doch hatte ich auch so manche Gelegenheit, mit dem Tod zusammenzutreffen. Dies war zum Beispiel der Fall, wenn ich durch verschiedene Umstände ohne Arbeitskommando war und mich mit anderen Schicksalsgefährten auf den Appellplatz begeben mußte, um dort einem Kommando zugewiesen zu werden. Mehrere Male erhielt ich Arbeitsplätze, die nicht zu anstrengend waren, zum Beispiel in der Strumpfstopferei. Doch noch denke ich mit Schrecken an den Tag zurück, an dem ich dem Kommando Steinbruch zugewiesen wurde. Dieses Kommando war in den ersten Buchenwaldjahren ein echtes Todeskommando gewesen. Damals übten in den meisten Kommandos noch die Grünen ihre Gewaltherrschaft aus, also die Berufsverbrecher, die mit der SS bei Folterungen und anderen Quälereien wetteiferten. Die dorthin verbannten Gefangenen wurden von den SS-Leuten und deren verbrecherischen Helfern mit besonders schweren Steinen beladen, die steilen Abhänge hinauf- und hinabgejagt, getreten und geprügelt, bis sie, verzweifelt, auf die Kette der SS-Bewacher zuliefen, von denen sie mit Genuß „auf der Flucht“ erschossen wurden. Gottseidank hatten sich bis 1944 die Verhältnisse geändert. Die illegal organisierten politischen Gefangenen hatten die SS-Verwaltung davon überzeugen können, daß die Schreckensherrschaft der Grünen innerhalb des Lagers, ihr — der SS -, die an der wirtschaftlichen Ausbeutung bis zum Tod der Gefangenen Nutzen zog, diesbezüglich großen Schaden bereiteten, so daß die „Roten“ Kapo- und Vorarbeiterstellen erhielten und das Los ihrer Mitgefangenen erleichtern konnten. Davon habe schließlich auch ich profitiert und meine Tage im Steinbruch gingen zwar sehr erschöpfend, doch ohne Folterqualen vorbei, solange bis einer jener, die mir Solidarität und Freundschaft erwiesen, mir ein besseres Kommando verschafft hatte. Damit komme ich nun zum Hauptkapitel meiner Lagerstation Buchenwald, das sind die Menschen. In Meslay, wohin die „feindlichen Ausländer“ wahllos, nur wegen ihrer staatlichen Herkunft verbracht wurden, hatte ich meine Aufmerksamkeit vor allem den zahlreichen Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern zugewandt. In Buchenwald gab es im großen gesehen zwei Arten von Menschen: solche, die wegen ihrer politischen Ansichten und/oder Tätigkeiten dort von den Nationalsozialisten „konzentriert“ wurden: Deutsche, die oft schon elf Jahre das furchtbare Regime erdulden mußten, Österreicher, viele seit 1938 gefangen gehalten und, seit Beginn des Krieges und der Eroberungen des Dritten Reiches, jene, die dort dem Verbrecherregime der Nazi Widerstand aller Art gezeigt hatten: Tschechen, Jugoslawen, Russen, Franzosen, Italiener, Spanier, ... Die zweite Großgruppe war gemischt: Neben echten Berufsverbrechern auch alle, die von den Nazis als Verbrecher eingestuft und eingesperrt worden waren und an denen SS und Grüne ihr sadistisches Mütchen kühlen... Ich selber hatte einen merkwürdigen Status. Es war mir nämlich gelungen, den Folterungen soweit Stand zu halten, daß ich die Identität meiner falschen Papiere behalten konnte. So hieß ich denn in Buchenwald schlicht und einfach Henri Lebrun, trug den roten mit einem F verzierten Winkel und mußte nur darauf achten, mich nicht selber zu verraten. Nur ganz wenige Menschen wußten davon, daß ich nicht Franzose, sondern Österreicher war. Von denen will ich nun erzählen, denn ihrer Freundschaft, ihrem Schutz und ihrer Solidarität habe ich es zu verdanken, daß ich Buchenwald überlebt habe. Der erste, dessen ich hier gedenken muß, war Otto Horn, ein österreichischer Gewerkschafter, ehemals Sozialdemokrat, nach der Annexion Kommunist geworden. Otto Horn, der in Buchenwald die Funktion eines Lagerelektrikers ausübte, hatte dadurch Gelegenheit, sich im ganzen Lagergebiet frei zu bewegen, viele Beziehungen anzuknüpfen und Nachrichten zu vermitteln. Er war, was ich erst später erfuhr, einer der Vertreter Österreichs im illegalen internationalen Kampfkomitee, das in den letzten Jahren des Buchenwaldlebens den Widerstand innerhalb des Lagers vorbereitete, tatsächlich auch ins Werk setzte und diesen Widerstand zuletzt zu jenem Niveau erhob, daß man tatsächlich von einer bewaffneten Selbstbefreiung des Lagers Buchenwald sprechen kann, die im Zusammenwirken mit den anrückenden Amerikanern verwirklicht wurde. Als ich eines Tages, kommandolos, auf dem Appellplatz darauf warten mußte, wohin mich der „Arbeitseinsatzleiter‘ verschicken würde, wobei die höchste Gefahr darin bestand, nach Dora zu kommen, jenem Nebenlager Buchenwalds, das praktisch ein Todeskommando war, wo die Überlebenschancen nahezu auf dem Nullpunkt sanken, setzte Otto Horn seine ganze Energie und Fähigkeit ein, um mir so rasch wie möglich ein Kommando zu verschaffen, in dem ich vor der Verschickung nach Dora bewahrt war. Mehr als einmal hat mir Otto Horn so das Leben gerettet. Eine ganze Gruppe anderer Österreicher hat mir geholfen, mich den Unbilden des Lagerdaseins soweit zu erwehren, daß mein Körpergewicht nicht unter ein gewisses Minimum sank. Sie teilten ihre Eßpakete, die sie als „Ostmärker“ von zu Hause erhalten durften, mit mir und stärkten mich auch moralisch nach Kräften: darunter war auch Hans Kerschbaumer, ein richtiger Philosoph der Arbeiterbewegung, der mit mir über Sinn und Zweck, aber auch die anzuwendenden Methoden diskutierte und mich viele Degenerierungserscheinungen innerhalb der Arbeiterbewegung erkennen ließ, die es zu vermeiden galt. Er war nach dem Krieg viele Jahre lang allgemein geschätzter kommunistischer Gemeinderat in Linz. Zur Gruppe derer, die mir ständig Solidarität erwiesen, gehörte auch Karl Flanner, der sich sehr für die Widerstandsbewegung in Frankreich interessierte. Karl Flanner hat nach dem Krieg sehr viel getan, um die „Zeit von Buchenwald“ und Buchenwald selbst vor dem Ver17