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„Ich war ein einsames Kind, sehr mit meiner Phantasie beschäftigt. [...] Also lebte ich im weitesten Sinne sehr stark in der Literatur, nämlich durch ein Kinderfräulein, das mir, als ich fünf, sechs Jahre alt war, Märchen vorlas“, betont Walter Herbert Sokel im Gespräch.' Phantasie, Phantastisches und Phantastik bestimmen die innere wie auch äußere Biographie des am 17. Dezember 1917 in Wien geborenen und nun in San Francisco lebenden Literaturwissenschaftlers: Als Neunjähriger flüchtete er sich mit dem Schreiben phantastischer Geschichten und Romane aus der ökonomischen Enge des Elternhauses, das durch die Fehlspekulation des Vaters, eines aus Kolomea (Galizien) stammenden Bankiers, 1924 verarmt war; als Gymnasiast wuchsen ihm durch die Vertiefung in Literatur neue Welten phantastischer Ich-Entwürfe zu - insbesondere durch die Lyrik Hofmannsthals, Rilkes und Trakls, Galsworthys The Forsyte Saga, Dostojewskis Schuld und Sühne und Die Brüder Karamasow, Thomas Manns Buddenbrooks, Tonio Kröger und Der Zauberberg, Hesses Steppenwolf, die Romane der groBen Franzosen und dann spater, unter dem Einfluß des Lyrikers und Romanschriftstellers Marcell Pellich (Wien 1908 - Zürich 1945), Brochs Schlafwandler und Canettis Die Blendung. Marxismus und Psychoanalyse ließen ihn an phantastische Möglichkeiten individueller und kollektiver Freiheitsgewinnung glauben: „Wir“ — gemeint sind Freunde aus dem Wiener Gymnasium Zirkusgasse, unter ihnen vor allem der spätere Theaterschriftsteller und -produzent Martin Esslin (eigentlich: M. Pereszlenyi; geb. Budapest 1918) - „sahen Marx und Freud als die beiden Befreier der Menschheit, ja und wir dachten an die Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse“ (S. 40). Gerade sechzehn Jahre alt, trat Walter H. Sokel der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler bei und beschloß, Medizin zu studieren, um danach Psychoanalytiker werden zu können. „Was mich dann abgehalten hat, nach der Matura in die Medizin zu gehen, war die Chemie: Ich war nämlich sehr schwach in der Chemie und Biologie. So bin ich dann doch auf die Geisteswissenschaften umgeschwenkt“ (S. 40) — nämlich auf Romanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Seine aus Geschichte, Literatur, Philosophie, Psychologie und eigenem Dichten gespeiste Phantasie rettete Walter H. Sokel bei der Flucht 1938 das Leben: An der jugoslawisch-italienischen Grenze in der Nähe von Triest angehalten und nach seiner ‚rassischen’ Zugehörigkeit befragt, weiß er ganz genau: „Jetzt geht es um Tod und Leben. Jetzt muß ich unbedingt rein nach Italien, ich kann nicht zurückgeschickt werden, das wäre der Tod. Und so erfand ich mir, ich hatte ja oft Geschichten erzählt, die immer Projektionen von mir waren, so erfand ich mir eine Person“: jene eines nationalsozialistischen katholischen Kunststudenten, der in Venedig und Padua für ein Seminar an der Wiener Universität bestimmte Kunstwerke zu studieren hat (S. 45). Nach der gegliickten Flucht verbrachte Walter H. Sokel ein halbes Jahr in Ziirich und gelangte mit Hilfe einer Tante nach New York. ,,Amerika ist fiir mich mit dem Wort Job verbunden. Kapitalistische Sklaverei, das war Amerika fiir mich. Ich bekam schon innerhalb von zwei Wochen einen Job und wurde Laufbursche in einer Wäschefirma, trug Pakete aus. Aber in meinem Innenleben war ich ganz in Europa“ (S. 48). Auf Empfehlung von Thomas Mann erhielt der Einundzwanzigjährige 1939 ein Stipendium an der Rutgers University in New Brunswick, N.J., studierte dort zwei Jahre lang Geschichte und Philosophie und wandte sich danach an der Columbia University, N.Y. dem Studium der Germanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft zu — vorerst aus eher beruflichen denn aus ideellen Gründen, weil „es keine Positionen für einen Geschichtsprofessor“ gab, „der refugee war und nicht anglisch (also protestantisch, weiß und anglischer Herkunft), während Deutschlehrer gesucht wurden, da der Krieg begonnen hatte und man Deutschlehrer brauchte, um die Armee zu unterrichten. So sattelte ich aus praktischen Gründen auf Germanistik um. Das war für mich sehr einfach, weil ich von der deutschen Literatur schon sehr viel kannte — ich hatte auch Nadler gehört in Wien“ (S. 50). Oft genug empfand Sokel, der sich erst in und vermittels der Emigration über die deutschsprachige und hier vor allem über die Lektüre Kafkas und Schnitzlers einen „Ersatz für eine Heimkehr“ geschaffen hatte, „die es nicht mehr geben konnte‘”, seine berufliche Tätigkeit als Makel: „Als ein die deutschsprachige Literatur Studierender fühlte ich mich moralisch verdammt, pervers und absurd erscheinend, Verräter nicht nur an der jüdischen Gemeinschaft, der ich durch Familie und Geburt angehörte, sondern an der Menschheit, gegen die sich der von Deutschen und Osterreichern veriibte mehrfache Genozid unvergebbar verstindigt hatte.‘® Lehrer beeinflußten den Studenten kaum, eher waren es Bücher wie Die Verwandlung Kafkas, deren eher zufällige Lektüre im Jahre 1941 Sokel ein bis heute fortwirkendes kathartisches Erlebnis bereitete, oder Musils Mann ohne Eigenschaften, der „zur entscheidenden Erweiterung und Erhellung“ seines „existentiellen Horizonts wurde‘“.* Freunde, Vertraute und intellektuelle Wahlverwandte fand Sokel nicht unter ‚typischen’, sondern, wie er es nennt, unter „Halbamerikanern“: einem Kreis von Außenseitern, hauptsächlich Juden, Linksintellektuellen, amerikakritischen Oppositionellen, 6sterreichischen und deutschen Emigranten. Sehr nahe stand ihm der um drei Jahre jüngere, 1938 aus Wien vertriebene und 1945 nach New York gelangte Literaturwissenschaftler, Philosoph und Dichter Peter Heller (Wien 1920 — Williamsville, N.Y. 1998), der in den Debatten iiber Avantgarde und Modernismus stets Sokels konservativen Konterpart spielte. Mit der 1953 fertiggestellten Studie „The Writer in Extremis. Expressionism in Twentieth-Century German Literature“ erwarb Sokel 1953 seinen Ph.D., wurde im selben Jahr Instruktor an der Columbia University, 1956 Assistant Professor, 1960 Associate Professor und schließlich 1964 Full Professor für deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University, Kalifornien. 1973 wechselte Sokel als Commonwealth Professor für Germanistik und später auch für Anglistik an die University of Virginia, Charlottesville, erhielt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen (in Österreich 1997 das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst sowie 1998 den Doktor h.c. der Universität Graz) und lehrte als Gastprofessor an der Harvard University, an den 19