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Universitäten Hamburg, Freiburg im Breisgau, Graz sowie an der Rutgers University, New Brunswick. Was bereits Sokels Kindheit geprägt und in jeweils wechselnden Schattierungen seine Jugendjahre begleitet hatte: der „Gegensatz von alltäglicher Wirklichkeit und den Welten der Phantasie, in denen ein wahreres und stärkeres Leben gelebt wurde‘®, modellierte und konkretisierte sich im Laufe der universitären Karriere zur systematischen literaturphilosophischen Reflexion. Den geistesgeschichtlichen Horizont des Writer in Extremis (deutsch „Der literarische Expressionismus“, 1960) und der zahlreichen wissenschaftlichen Beiträge und Essays über den literarischen Expressionismus, Autoren der Moderne (u.a. Musil, Brecht, Wedekind, Rilke, Böll, Handke) und Deutsche Geistesgeschichte® stecken in erster Linie sozialgeschichtliche Betrachtung, Psychoanalyse und Existenzphilosophie ab, bei deren analytischer Umsetzung sich Sokel von den Prinzipien des Close Reading und zugleich von den Möglichkeiten weltliterarischer und ideologiegeschichtlicher Kontextualisierungen leiten läßt. Mit der 1964 in dritter Auflage 1983 erschienenen Studie „Franz Kafka. Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst“ sowie mitrund zwanzig Aufsätzen u.a. zu „Die Verwandlung“, „Vor dem Gesetz“, „Schakale und Araber“, „Der Prozeß“, „Das Urteil“ oder „Beschreibung eines Kampfes“ ist Walter H. Sokel zum Doyen der Kafka-Forschung geworden. Sokels ständige und inständige Auseinandersetzung mit Kafkas fiktiven Welten in ihren existentialistischen, marxistischen, jüdischen, psychoanalytischen und linguistisch-rhetorischen Dimensionen lotet analytisch aus, was dem Jugendlichen existentielle Lektüreerfahrung war: „Diese wunderbare Erweiterung der Welt. Daß man alles sagen kann, wie er“ — Kafka „es selbst sagt in seiner Beschreibung des Urteils, daß für alles ein Wort da ist, auch für das Abwegigste, auch für das Seltsamste und Sonderbarste.® Das ist für mich Kafka: der Klassiker des Traumes“ (S. 59). Durch Kafka wurde Sokel überdies „exemplarisch deutlich, daß Lesen nichts Passives ist, 20 daß Lesen schöpferisch ist, daß es zum Weiterschreiben, zum Opponieren, zum Variieren, zu Alternativen anspornt“.? Unter dem Eindruck von Kafkas kurzen traumhaften Erzählungen wie „Der Schlag ans Hoftor“'° schrieb Sokel 1942 auch eigene phantastische Novellen, denen er den Titel „Aus der Weltnacht“ gab — nach der kriegsbedingt apokalyptischen Entstehungszeit wie auch nach ihrer Abfassung in alptraumbeschwerten Nächten. Aus diesem elfteiligen, bis auf die Erzählung „Bei unserem vergessenen Vater“! bislang unpublizierten Novellenzyklus stammt das nun in ZW vorgelegte Prosastück „Die Liebhaber häßlicher Mädchen“. Die Erzählung stellt thematisch-motivisch einen Verstoß gegen Tabus der politischen Korrektheit dar. „Gerade auf den Bruch der politischen Korrektheit“, erläutert Walter H. Sokel, „kommt es ja hier an. Da der Text auf die Gefühle von Frauen eingeht, die dem konventionellen und trotz ‚women’s Lib‘ weiter geltenden Begehrtheitsmuster und damit der Rangordnung nicht entsprechen, könnte man ja die Novelle auch aus der Sicht eines weiteren und tieferen ‚Feminismus‘ lesen.“? Anmerkungen 1 Walter Herbert Sokel: „... das wäre der Tod. Und so erfand ich mir eine Person“. Interview von Beatrix Miiller-Kampel mit Walter Herbert Sokel am 16. April 1997 in Tucson, Arizona. In: Lebenswege und Lektiiren. Osterreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada. Hg. von B. Miiller-Kampel unter Mitarbeit von Carla Carnevale. Tiibingen: Niemeyer 2000. (=Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jiidischen Literatur- und Kulturgeschichte. 30.) S. 23-69, hier S. 26. In der Folge zitiert im Text. 2 W.H. Sokel: Anfänge in düsterer Zeit. In: Leben mit österreichischer Literatur. Begegnungen mit aus Österreich stammenden amerikanischen Germanisten 1938/1988. EIf Erinnerungen. Hg. von der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur und der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Wien: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur 1990. (Zirkular. Sondernummer 20). S. 15-28, hier S. 23. 3 W.H. Sokel: Germanistik im Kreuzfeuer. Teil einer geistigen Autobiographie. In: Ehrenpromotion des Herrn Prof. Dr. Walter H. Sokel, emeritierter Commonwealth-Professor for German Literature, University of Virginia, zum Doktor der Philosophie. Graz: Kienreich 1998. S. 23-53, hier S. 40. 4 Sokel, Anfinge in diisterer Zeit (wie Anm. 2), S. 27. 5 Ebenda, S. 17. 6 Personalbibliographie W.H. Sokels in: Lebenswege und Lektüren (wie Anm. 1), S. 61-69. 7 München: Langen-Müller 1964; dann Frankfurt a.M. 1976 (Fischer Taschenbuch. Allgemeine Reihe 1790; 2. Aufl. 1983). 8 Vgl. Franz Kafkas 1913 veröffentlichte Erzählung „Das Urteil“. — In sein Tagebuch notierte Kafka am 23.9. 1912 dazu: „Diese Geschichte ‚Das Urteil’ habe ich in der Nacht vom 22. bis 23. von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug geschrieben. [...] Mehrmals in der Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gesagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn.“ Zitiert nach: Franz Kafka. Hg. von Erich Heller und Joachim Beug. München: Heimeran/ S. Fischer 1969. (Dichter über ihre Dichtungen). S. 19. 9 Sokel, Anfänge in düsterer Zeit (wie Anm. 2), S. 26. 10 Vgl. Franz Kafkas 1917 entstandene Erzählung „Der Schlag ans Hoftor“ (Titel von Max Brod; Erstdruck 1931). 11 W.H. Sokel: Bei unserem vergessenen Vater. Eine Traumnovelle aus der Weltnacht — Februar 1942. In: Signaturen der Gegenwartsliteratur. Festschrift für Walter Hinderer. Hg. von Dieter Borchmeyer. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. S. 29-35. 12 E-mail von W.H. Sokel an B. Müller-Kampel, 21.5. 2001.