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Es ist immer schwer, aus Anlaß eines runden Geburtstages die Summe des Lebens dessen, dem zu gratulieren ist, auf eine einfache Formel zu bringen. Bei Fritz Beer, der am 25. August in London seinen 90. Geburtstag feierte, ist es besonders schwer. Ist er nun der ,,vaterlandslose Geselle“, jenes einstige Schmihwort, das er fiir sich positiv umgemiinzt hat, um seine Position zu beschreiben? Ist er der ,,greise Fritz Beer aus London“, als den ihn wohlmeinende Veranstalter einmal angekündigt hatten? Oder ist er der eine verbliebene der beiden „letzten Granitfelsen der Emigration“ — ein Ehrentitel, den die am 21. Oktober in Jerusalem gestorbene Anna Maria Jokl ihrem alten Freund aus Prager Zeiten und sich selbst verliehen hatte? Wie auch immer: Die Achtung vor diesem Mann des aufrechten Wortes und der scharfen Zunge gebietet es, sorgsam die Worte zu wägen, auf der Hut zu sein vor der Einordnung in eine passende Schublade, vor der Versuchung, ein Leben mit vielen Umwegen, Erschütterungen und Unebenheiten zu glätten zu einer harmonischen Vita, die es so niemals gegeben hat. Diesen Eindruck jedenfalls vermittelt vor allem die Lektüre eines Buches, das Fritz Beer im Untertitel mit Bedacht als Fragmente einer Lebensgeschichte benannt hat. Zu sehr war er sich im klaren über die Unzulänglichkeit bei der bewußten und unbewußten Auswahl bei der Wiedergabe und vor allem Deutung des Erlebten. Mit Max Frisch, den er zitiert: „Jeder Mensch erfindet einmal eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“ Oder mit Beer: Der Wahrheitsgehalt von Selbstbiographien käme dem der Werbetexte von Hausmaklern gleich. Hast Du auf Deutsche geschossen, Grandpa? — so der Haupttitel des Buches von 1992 — war der herausfordernden Neugierde der damals noch jungen Enkel von Beer zu danken; denn deren komplizierte Frage war ihrem Grandpa Anstoß zur Selbstbefragung und einer komplexen Antwort auf schließlich 576 Seiten. Ihr Verfasser kam 1911 in Brünn (Brno) in Mähren zur Welt, damals noch österreichisches Kronland; Sohn einer deutsch-jüdischen Mittelstandsfamilie — so wie der Prager Franz Kafka, dessen mutige Freundin Milena Jesenskä für Fritz Beer mehr als zwanzig Jahre später eine enge Vertraute wurde. Schon in seinen ersten Lebensjahren überstürzten sich die Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung. Mit dem Ersten Weltkrieg vollzog sich der Untergang des Habsburgerreichs und wurden die Weichen für die Geburt der Tschechoslowakei gestellt, ebenfalls ein Vielvölkerstaat, der auch über diesem ungelösten Erbe schließlich zerbrach. In diesem jungen Staat wanderte Fritz Beer auf vielen Wegen: Im zionistischen Jugendclub „Blau-Weiss“, dann 1928 auf Abenteuerreise durch halb Europa zur Olympiade nach Amsterdam, 1929 bei ersten Berührungen mit Kommunisten. Es folgten: das Studium in Prag (Volkswirtschaft — damals unter Jura subsumiert), literarische Versuche, kurze Intermezzi in Dijon und Berlin. 1929 trat Beer der KP bei, ab 1930 betätigte er sich als deren Funktionär. Gleichzeitig begrub er frühere Sehnsüchte: „Als ein mäßig begabter deutscher kommunistischer Schreiber 1931 in Prag eine Schriftstellerkarriere zu beginnen, erschien mir aussichtslos.“ Stattdessen wurde Fritz Beer politischer Journalist. Redakteur der Welt am Sonntag — damals ein „obskures Wochenblatt“ in Teplitz-Schönau, „getarntes“ Parteiorgan, Wolf im Schafspelz. Danach schrieb er für das neue Zentralorgan in Nordböhmen, den Roten Vorwärts in Reichenberg (Liberec), soziale Reportagen, war Reporter auf Wanderschaft, in Egon Erwin Kischs Fußstapfen: die letzten Winkel der Karpathen durchstreifend oder mit dem Notizblock durch die Prager Abwässerkanäle watend. In der Partei kam es zu Begegnungen mit Persönlichkeiten, die in der unrühmlichen Geschichte des Stalinismus beschrieben sind: Julius Futik, Fritz Geminder, Rudolf Slänsky, Otto Sling. Beer übernahm konspirative Parteimissionen. 1934 wurde er in den erlauchten Kreis der deutschen Exil-Zeitung Arbeiter-Illustrierte Zeitung (AIZ) aufgenommen. Als Redakteur arbeitete er damit unter anderem mit F. C. Weiskopf, Anna Maria Jokl und John Heartfield zusammen. Wesentlich beteiligt war Fritz Beer auch an Bruno Freis Gegen-Angriffund der Roten Fahne unter Ludwig Freund (Frejka). Ein guter Freund wurde Louis Fürnberg. Von Kisch erhielt er den journalistischen „Ritterschlag“: „Sie könnten mein Nachfolger werden!“ Das wurde er allerdings nicht in jeder Beziehung: Für Abweichungen von der Parteilinie wurde er abgestraft und anschließend isoliert. Solidarische Ermutigung erhielt Fritz Beer durch die kritische Journalistin Milena Jesenskä: „Laß dich von der Partei nicht vernichten.“ Sie verschaffte dem zwischenzeitlich als Abweichler Stigmatisierten eine neue berufliche Existenz als Journalist für eine Illustrierte. Aus Fritz Beer wurde dabei der Tscheche „Jan Kamenitzky“ oder an anderer Stelle für deutsche Leser „Hans Stein“ — nur zwei von einer ganzen Reihe von Pseudonymen und Decknamen. Von Oktober 1936 bis 1938 wurde Fritz Beer zum Militärdienst in die tschechoslowakische Armee eingezogen — angesichts von Schikanen gegen den Intellektuellen und deutschen Juden eine Schule der Selbstbehauptung. Anstatt wie erwartet, in einem Krieg die Heimat gegen eine deutsche Invasion verteidigen zu müssen, folgte die große Ernüchterung: kampflos erhielt Hitler infolge des Münchner Abkommens vom 29. September 1938 das wirtschaftliche und militärische Rückgrat der CSR ausgeliefert. Den „Soldaten Beer“ gab es bald darauf nicht mehr. Nach dem Einmarsch der Deutschen in die Rumpf-CSR am 15. März 1939 mußte Fritz Beer sich retten, denn er stand als kommunistischer Redakteur auf einer Schwarzen Liste der Gestapo. Wie die Schriftstellerkollegen Ludwig Winder und Anna Maria Jokl entkam er bei MährischOstrau (Moravska Ostrava) nach Polen und konnte weiter nach England emigrieren. Nach seiner Ankunft in London wurde er von den Kommunisten angewiesen, als einer ihrer Vertreter der „ThomasMann-Gruppe“, einer Sektion innerhalb des „Czech Refugee Trust Fund“, beizutreten. Allerdings entsprach die Zugehörigkeit zu dieser überparteilichen Gruppe, die erheblichen Einfluß bei der Erteilung von Visa und Unterstützungsleistungen hatte, auch Fritz Beers wachsendem Abstand von der KP. Der Hitler-Stalin-Pakt beraubte ihn bald darauf der letzten Illusionen über die Moral des Kommunismus als System, und er trat 25