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so aggressiv plädierte. Er und alle, die vor der Vergangenheit weglaufen, ermorden die Opfer ein zweites Mal. In seinem 90. Jahr schrieb Fritz Beer seinen vielleicht intimsten Text, der auch die Beschäftigung mit seinen jüdischen Wurzeln umfaßt. Mit einem „Kaddisch“ in Versen gedachte einst Mascha Kaleko der ermordeten Judenschaft. Ein Kaddisch für meinen Vater — ermordet in Treblinka — trug Fritz Beer im März diesen Jahres auf Einladung des Adalbert-Stifter-Vereins in München vor; es soll in der FAZ publiziert werden. Anstoß für Kaddisch für meinen Vater war der Besuch seiner Kusine Miriam in London 1950. Sie löste damit ein Versprechen ein, das sie Fritz Beers Vater im Lager Theresienstadt gegeben hatte, als dieser seiner Deportation nach Treblinka entgegensah. Der letzte Wunsch des Vaters war, daß ihm vom einzigen geretteten von den drei Söhnen das Kaddisch gesprochen würde. Das Kaddisch, der alte überlieferte Jüdische Gebetshymnus, wird — als Totengebet - jährlich am Todestag des Verstorbenen gesagt; daran ist der Seelenfrieden des Verstorbenen geknüpft. Was einem frommen Juden eine religiöse Pflicht gewesen wäre, wurde für Fritz Beer zu einer quälenden Herausforderung, zur „Belastungsprobe der intellektuellen und moralischen Qualität“. Denn wie sollte Beer, ohne an Gott zu glauben und den jüdischen Riten entfremdet, eine religiöse Handlung angemessen ausführen? Noch bedrückender war aber die nicht unbegründete Annahme, daß der Vater womöglich im Brünner Ghetto durch Kollaboration zum Schuldigen, zum Mitverantwortlichen geworden sei. Kaddisch für meinen Vater liest sich wie ein Eingeständnis des Verfassers, vor dieser Vergangenheit „weggelaufen“ zu sein. Es ist Ausdruck der jahrzehntelangen Furcht des Autors, Sohn eines Opfers zu sein, das vermutlich auch eine Art Täter war. Eine Konfrontation mit den Eltern, wie sie sich, wenn auch unter anderen Vorzeichen, ebenfalls für die gleiche Kindergeneration in Deutschland, in Österreich und anderswo stellte: den Grad von Verstrickung in Schuld innerhalb der eigenen Familie zu ergründen, um ihn zu beurteilen und das Verhältnis zu den Eltern überprüfen zu können. Seine persönliche Erfahrung weitet der Autor aus zu einem Essay über grundsätzlichere Fragen: nämlich, wo Schuld beginnt, was sie entschuldbar oder verständlich macht und was nicht. Kaddisch ist im engeren Sinne Versuch über den Vater mit dem Ziel, diesen vertraut-unvertrauten Menschen sich insgesamt zu erschließen, der Prägung durch ihn nachzuspüren, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so wenig das auch möglich sein mag. Schon damit überwindet Fritz Beer sein „Weglaufen vor der Vergangenheit“. Bereits seine Autobiographie — und eine Reihe von Essays — galten der Einlösung dieses Anspruchs. Auf seine Familiengeschichte bezogen: die Beschäftigung mit seinem Gefühl der „Schuld des Überlebenden“ oder die Auseinandersetzung mit seinem Bruder Kurt, der aus seinen Zweifeln nicht die Konsequenz zog, mit dem Kommunismus zu brechen. Kaddisch dokumentiert ferner, wie der Autor schließlich die Furcht vor der unangenehmen Gewißheit über die genaue Rolle seines Vaters überwindet. Nach jahrzehntelangem Schweigen und der Last eines nie gesagten Kaddisch antwortet ihm die Kusine auf die endlich gestellte Frage nach der Rolle des Vaters: „Lieber Fritz, Du hast Dich ein halbes Jahrhundert unnötig geplagt. Dein Vater war kein Kollaborant. [...] Er war ein Angestellter der Jüdischen Gemeinde und nicht des von den Nazis eingesetzten Judenrats. Er hatte alles Recht, aufrecht in den Tod zu gehen, so wie Dein Bruder. Hast Du Kaddisch für 28 ihn gesagt?“ Fritz Beer hat jetzt sein „Kaddisch“ auf den Vater gesagt. In einer Weise, die höchst intim ist und dabei doch weit mehr als eine familiäre Angelegenheit. Kaddisch fiir meinen Vater ist — wie einige andere Essays auch — ein Schliisseltext, um die Wirkung und Leistung des Autors Fritz Beer zu beschreiben. Sein Wort fordert heraus. Manchmal auch zum Widerspruch. Aber immer zur Reflexion, zur Uberpriifung von Meinungen, zur Meinungsbildung, zum Nachdenken. Besonders Fritz Beers Art der Selbstreflexion und Selbstkritik, das offene Bekenntnis selbst zu Irrtum und Fehlen, ist eine seltene Stärke und Ermutigung in einer Kultur, in der Zweifel als Schwäche gelten und in der Streit verpönt ist. Sein Standort als Außenseiter, als Ausgestoßener, als distanzierter Beobachter prädestiniert Fritz Beer dazu, eine „Forschungstätigkeit“‘ besonderer Art auszuüben: So erhält zum Beispiel das Wort vom „Heimatforscher“ auf einmal eine neue Dimension, wenn man es auf den „vaterlandslosen Gesellen“ Beer anwendet, welcher der Bedeutung von „Heimat“ nachspürt. Wie der „Heimat“, so versucht Beer in seinen zahlreichen Essays vielen Begrifflichkeiten und Schlagworten auf den Grund zu kommen: Gott und der Welt, Heimat, Exil, Sprache, Schuld, Zivilcourage, dem Zusammenhang von „Kunst und Freiheit‘. Wohlfeile Distanzierung der Vergangenheit weist Beer entschieden zurück: „Der Brunnen der Vergangenheit speist unsere Zukunft.“ Bei alledem: Fritz Beer taugt nicht zur Heldenverehrung. Er ist Mythenzertrümmerer, auch in eigener Sache und in Bezug auf die Geschichte des Exils, die ihm zu „oft romantisiert“ wird. So eignet er sich nicht zur Projektionsfläche für die hohle Lobpreisung eines Emigranten, die womöglich in erster Linie dem schlechten Gewissen und dem Reflex zur Wiedergutmachung entspringt. Fritz Beer hier noch weiter ergründen zu wollen, wäre ein Anspruch, der scheitern muß. Wenn es dagegen gelänge, zum Lesen der Bücher und Beiträge von Fritz Beer anzuregen, dann hätten diese Seiten ihre Berechtigung. Nur hat es mit der BeerLektüre einen Haken: Man kann Fritz Beer nicht ohne einen gewissen Aufwand lesen, da er auf dem Büchermarkt praktisch nicht präsent ist. Eine komplizierte Geschichte, vielleicht nicht ohne Zutun des Autors: Denn vor seiner Autobiographie Hast Du auf Deutsche geschossen, Grandpa? hatte Fritz Beer selbst bald nach ihrem Erscheinen 1992 in den Londoner europäischen ideen „gewarnt“. Etwa mit Erfolg? Hat man ihn ausgerechnet da beim Wort genommen? Warum bloß wurde dieses ausgezeichnete, aber vergriffene Buch von 1992 nicht schon längst wieder vom Aufbau-Verlag neu aufgelegt? Es gehört nicht — wie Arthur Koestlers Autobiographie oder Georg K. Glasers Geheimnis und Gewalt — zu den aufschlußreichsten Erinnerungsbüchern über Anspruch und Wirklichkeit kommunistischer Parteien. Hast Du auf Deutsche geschossen, Grandpa? bietet ein umfassendes, kritisch reflektiertes Panorama der unglückseligen Entwicklungen Mitteleuropas in einem Jahrhundert, das vom Totalitarismus geprägt wurde. Solche Bücher sind selten, sind wertvoll, sind lehrreich, ohne Belehrung zu sein. Wenn der Autor dazu noch ein solch fesselnder Erzähler ist und man bei einem so ernsten Buch immer wieder auch lachen kann, dann ist das ein wirklicher Glücksfall. Fritz Beer ist in seinem Leben mit Preisen und Orden vielfach geehrt worden. Eine größere Anerkennung, als sich vom „Störenfried“ Fritz Beer weiter „stören“ zu lassen, kann man ihm jetzt zum 90. Geburtstag kaum erweisen.