OCR
In einem meiner Träume komme ich in ein fremdes Land, dessen Hauptstadt sich auf einem steinigen Hochplateau befindet. Ich muß mich zu einer festgesetzten Stunde in der zentralen Polizeistation einfinden, die in einem hohen, runden Turm untergebracht ist, der durch eine Schlucht vom Zentrum der Stadt getrennt ist. Das Gebäude aus unbehauenen Steinen hat schießschartenartige Fensteröffnungen. Ich steige eine gewundene Treppe hinauf. In diesem Traum habe ich eine sieben Jahre alte Tochter, die mir unwillig folgt. Oben angelangt stehen wir vor einer Tür, an der ein Messingring angebracht ist. Es vergeht einige Zeit, bevor wir eintreten dürfen. Was sich in den Räumlichkeiten der Einwanderungsbehörde — denn diese ist im obersten Stockwerk des Polizeihauptquartiers untergebracht — abspielt, weiß ich nicht mehr genau. Ich erinnere mich nur noch an bleiche Gesichter und emotionslose Stimmen. Dann packen Hände nach meiner Tochter und nach mir, zerren uns durch mehrere Räume, die durch Schwingtüren verbunden sind, und werfen uns schließlich aus einem der Fenster hinunter in die Schlucht. Ich weiß noch, daß ich mich auf den Rücken drehe und zur Turmspitze hinaufschaue, die sich immer schneller von mir entfernt. Meine Tochter klammert sich an mich. Ich möchte sie mit meinem Körper vor dem Aufprall schützen. Unten geht der Turm auseinander, der Sockel rückt näher. Ich schlage mit dem Hals an eine Mauerkante. Mein Kopf wird vom Körper getrennt, springt, einem Tennisball gleich, von der Mauer weg, fliegt in einem weiten Bogen hinauf und an der Turmspitze vorbei. Ich sehe noch, wie mein enthaupteter Rumpf und meine Tochter in die Schlucht fallen. Mein Kopf dreht sich. Häuser und Straßen rasen durch mein Blickfeld. Hinter einer Hügelkette markiert ein Stacheldrahtzaun die Grenze... Der Alptraum ist ein Höllenfeuer: Es sorgt dafür, daß die Schatten der Erinnerung nicht verschwinden oder zu abstrakten Schemen, Symbolen werden, die bei Bedarf abrufbar sind. Als ich mit meinen Eltern die Sowjetunion Richtung Israel verlassen hatte, war ich fünf Jahre alt. Mit fünfzehn wurde ich aus den USA nach Österreich abgeschoben. Zwei Beamte der Bostoner Einwanderungsbehörde hatten meinen Vater in eine zwei mal drei Meter große Zelle gestoßen, wo er auf dem dunkelgrauen, mit Zigarettenkippen und Papierfetzen übersäten Betonboden aufschlug. Ich sehe sein gerötetes Gesicht und seine blutende Nase vor mir. Ich unternahm einen halbherzigen Versuch, meinem Vater zu Hilfe zu kommen, machte einige Schritte Richtung Zelle. „You wanna go with him?“ fragte einer der Beamten. Statt einer Antwort nannte ich ihn „jerk“, Wixer. Im nächsten Augenblick landete auch ich auf dem Betonboden. Außer ein paar Abschürfungen an den Händen und einem blauen Fleck am Knie trug ich keinen physischen Schaden davon... Die Hintergründe dieses Erlebnisses habe ich in meiner Erzählung Abschiebung beschrieben, in der ich allerdings (so wie in meinem Roman Zwischenstationen, dem meine Erfahrungen aus zehn Jahren Emigration zugrunde liegen) fiktive und autobigraphische Elemente miteinander verwoben habe. Mein Vater meinte später scherzhaft, er habe mir durch seine Fehler und Neurosen, die ja der Grund für unsere gescheiterten Emigrationsversuche gewesen sind, einen Erfahrungsschatz verschafft, von dem jeder andere Autor nur träumen könne. Aber ich träume heute noch davon. Im wachen Zustand muß ich allerdings zugeben, daß die Äußerung meines Vaters bei weitem nicht an die Monstrosität jener alles andere als scherzhaft gemeinten Aussage Anna Achmatowas herankommt, die nach der Verhaftung und Verurteilung Joseph Brodskys durch die sowjetischen Behörden zu Beginn der 1960er Jahre behauptet hatte, erst die traumatische Erfahrung von Gefängnis und Verbannung werde den begabten jungen Mann zu einem großen Dichter reifen lassen. Wer der christlichen Erlösungsvorstellung etwas abgewinnen kann, mag sich mit solchen Gedankengängen anfreunden. Demnach wäre der Künstler ein Leidender, der, durch seine schmerzvollen Erlebnisse „veredelt“, in eine ethisch höhere Sphäre aufsteigt und zu einer tieferen Erkenntnis dessen gelangt, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. In Form des Kunstwerks gibt er seine Erfahrungen weiter. Auf diese Weise erhält natürlich auch das Übel Sinn und Platz im Weltenbau. Folglich erfüllen jene, die das Übel verursachen, unwillkürlich eine höhere Aufgabe. Zu guter Letzt tragen auch sie zur Verbesserung der Welt oder zumindest zu ihrer „Ästhetisierung“ bei... An solchen Unsinn habe ich nie geglaubt. Daß ein Künstler nicht ausschließlich auf seinen persönlichen Erfahrungshintergrund zurückgreift, wenn er bestimmte Dinge versteht und darstellt, ist banal, keines Beweises bedürftig. Meine Alpträume sind nicht der „Preis“, den ich zu zahlen habe, um meine Bücher schreiben zu können. Vielmehr führen sie mir schmerzvoll vor Augen, daß ich immer das Kind bleiben werde, das ich nicht mehr sein möchte. Aber auch im wachen Zustand bin ich dazu verdammt, bestimmte Erlebnisse immer wieder abzurufen und nachzuspielen. Wenn ich zum Beispiel eine Behörde aufsuchen muß, befürchte ich jedesmal eine Katastrophe. Könnte es sein, daß der Beamte am Schalter mich unfreundlich behandelt und ich darauf beleidigend oder gar tätlich reagiere? Manchmal ist der Beamte wirklich unfreundlich, doch ich habe gelernt, meine Gefühle zu kontrollieren. Von Kontrolle zu Gelassenheit ist’s ein weiter Weg. An Gelassenheit mangelt es mir, wenn ich auf der Straße Ausländerfeindliches oder Antisemitisches höre. Wenig gelassen bin ich in Auseinandersetzungen mit Nachbarn oder rücksichtslosen Autofahrern wie mit all jenen, denen ich (ob tatsächlich oder nur vermeintlich) ohnmächtig gegenüberstehe. In solchen Momenten bleibt mir nichts anderes übrig, als mir unentwegt zu vergegenwärtigen, daß ich nicht mehr das Ausländerkind bin, das beschimpft und ignoriert wird, sich nicht durchsetzen kann und sich von „wilden Eingeborenen“ umgeben fühlt. Heute besitze ich die Kraft des Wortes, um einem Kontrahenten entgegentreten zu Können, und in vielen Fällen auch die physische Kraft, meinen Worten allenfalls Nachdruck zu verleihen. Obwohl ich letztere noch nie eingesetzt habe, verspüre ich gelegentlich trotzdem den Wunsch, zuzuschlagen anstatt zu diskutieren, zu schimpfen statt zu argumentieren, der aufgestauten Wut, die ich jahrelang niederhalten mußte, freien Lauf zu lassen. Hinterher entsetzt 29