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mich meine eigene latente Aggressivität meist mehr als der Alltagsfaschismus, der mir in Österreich immer wieder begegnet. Emigration und Exil, insbesondere wenn man diese als Kind erleben mußte, sind nie wirklich zu Ende. Als meine Freundin und ich vor einigen Monaten in eine neue Wohnung übersiedelten, wurde mir dies ein weiteres Mal auf schmerzvolle Weise deutlich. In unserer alten Salzburger Wohnung hatte ich sieben Jahre verbracht — die längste Zeit, die ich jemals an einem einzigen Wohnort zugebracht hatte. Ich hatte dort zahlreiche sehr schöne Momente erlebt und außerdem meine wichtigsten Texte geschrieben. Dennoch war ich froh, als wir aus der kleinen Wohnung ohne Zentralheizung ausziehen konnten. Die Wochen vor und nach der Übersiedlung wurden für mich jedoch zu einer emotionell belastenden, zum Teil recht unangenehmen Zeit. Jeder gepackte Koffer erinnerte mich an jene wenigen Gepäckstücke, die meine Eltern und ich mithatten, wenn wir uns wieder einmal auf den Weg machten. Jedes abgebaute Regal oder zerlegte Möbelstück, jeder verschenkte oder entsorgte Einrichtungsgegenstand, der eigentliche Umzug und die Schlüsselrückgabe an die Eigentümerin der alten Wohnung riefen bei mir Gefühle hervor, die ich für verschüttet oder umgewandelt (oder längst in geregelte Bahnen geleitet) gehalten hatte: daß alles, was ich mir aufgebaut habe und was mir wichtig ist, unwiederbringlich verloren sei, daß es keinen Weg zurück gebe, daß mich eine ungewisse Zukunft erwarte, daß ich allein sei und es nur noch schlechter werden könne. Ich litt an Panikattacken und Schlaflosigkeit. Eine tiefe Traurigkeit hatte mich erfaßt. Mir war, als hätte ich vollständig die Orientierung verloren, als bewegte ich mich durch ein Gebiet jenseits von Zeit und Raum. Manchmal versuchte ich, diese depressive Verstimmung durch Ironie zu brechen, oder ging streng mit mir ins Gericht. „Millionen Menschen leben auf der Straße“, murmelte ich in einer der zahllosen Nächte, in denen ich wach geblieben war, „Milliarden vegetieren auf wenigen Quadratmetern ohne jede Einrichtung und ohne Privatsphäre dahin. Und ich habe nach all den vielen Bruchbuden, in denen ich gewohnt hatte, endlich jene Wohnung, die ich mir schon lange gewünscht hatte — ruhige Lage, Terrasse, Garten und eigener Arbeitsraum! Und was mache ich, anstatt das Leben zu genießen? Ich leide... Ist das nicht verrückt? Nichts, dessen ich mich zu schämen bräuchte. Wenn das Schicksal eine ausgleichende Gerechtigkeit kennt, dann steht mir diese Bequemlichkeit heute zu, und wenn ich darauf verzichte, würde es das Los der vielen Emigranten und Flüchtlinge auf der Welt, die im Elend leben, auch nicht verbessern und macht auch nichts von dem ungeschehen, was ich selbst erlebt habe. Außerdem wird mir niemand das, was ich habe, wieder wegnehmen!“ Ich kam mir schlecht, egoistisch und übersensibel vor. Jeden Tag versuchte ich den „Übersiedlungskoller‘ dadurch zu entschärfen, daß ich mir meine Emigrationserfahrungen wieder ins Gedächtnis rief. Jeden Tag „bewies“ ich mir, daß meine Erlebnisse bei weitem nicht so traumatisch und prägend gewesen seien wie jene anderer Emigranten, die sehr viel Schlimmeres durchmachen mußten, und daß ich demzufolge sowieso kein „Recht“ darauf hätte, an meinen Erinnerungen zu leiden. Außerdem sei es unzulässig, nach einem freudigen Ereignis wie der Übersiedlung in eine schönere Wohnung verstimmt zu sein... Solche Überlegungen brachten mich (fast tendiere ich an dieser Stelle dazu, das Unwort „naturgemäß“ zu verwenden) 30 auch nicht weiter, sondern machten alles noch schlimmer. Erst als ich mich gegen meine Gefühle nicht mehr zur Wehr setzte, gelang es mir, meine depressiven Stimmungen zu überwinden. Man muß sich fallen lassen, um wieder aufstehen zu können. Inzwischen fühle ich mich in der neuen Wohnung wohl und genieße die damit verbundenen Vorteile. Verletzungen werden immer Narben hinterlassen. Seit meiner Kindheit schreite ich die Räume zwischen den Fixpunkten von Identität und Zugehörigkeit ab, ohne jemals ans Ziel zu gelangen. Das mag schmerzhaft sein, schärft aber, wie mir scheint, im steten Wechsel von Distanz und Nähe den Blick für das Wesentliche. Allerdings wirkt dieser Wechsel jener Haltung entgegen, mit der andere die Welt wie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Wieder andere sehen den Zwischenraum als Endpunkt an, in dem sie reglos ausharren, oder erheben das Wegschauen zur Methode. Jeder hat das Recht auf seine eigene Art, das Leben zu meistern. Wem dabei das Vergessen gelingt, wird vielleicht kurzzeitig zur Ruhe kommen, auch wenn er dafür mit Blindheit und Taubheit bezahlen muß. Für mich jedoch ist Erinnerung eine unverzichtbare Bedingung, mit mir selbst im Einklang zu bleiben. Nicht die Bewältigung des Unbewältigbaren ist dabei entscheidend, sondern dessen Akzeptanz. Auch wenn nicht alle Ambivalenzen auflösbar, Verstimmungen, Ängste und Aggressionen überwindbar sind, so bleibt zumindest die Möglichkeit, sie als ständige Begleiter meines Lebensweges anzuerkennen. Und manchmal können sogar Alpträume eine überraschende Wendung nehmen. Vor kurzem wurde ich von einem ähnlichen Traum wie dem eingangs geschilderten heimgesucht. Wieder war ich in der fremden Stadt und stieg die steile Treppe hinauf, die zur Turmspitze führte; wieder folgte mir meine Tochter, die ich nur im Traum besitze. Alles war wie zuletzt. Wir wurden von groben Händen gepackt und durch alle Räume gezerrt. Doch in dem Kampf, der dem Fenstersturz vorausging, hatte ich meine Peiniger fest umklammert. Alle zusammen stürzten wir den Turm hinunter in die Schlucht, wo meine Tochter und ich sanft auf warmen, weichen Beamtenleibern landeten. Internationaler Arbeitskreis Hermann Broch Paul Michael Lützeler, Hermann Broch-Biograph und Professor in St. Louis (USA) gibt die Bildung eines „Internationalen Arbeitskreises Hermann Broch“ (Internet-Website: http://artsci.wustl.edu/-iab) bekannt. Wer in der Broch-Forschung aktiv ist, kann Mitglied werden; Mitgliedsbeiträge werden nicht erhoben. Primäres Ziel des Arbeitskreises ist die Organisation internationaler und interdisziplinärer Symposien zum Werk von Hermann Broch. Interessierte können ihre Mitgliedschaft per E-mail bei P.M. Lützeler anmelden (jahrbuch @artsci.wustl.edu).