bis zum heutigen Tag unsere liebe und teure Freundin geblie¬
ben. (Für die, die sich für Jazz interessieren: Sie müssen schon
von Peppino d’Intino, dem Schlagzeuger und Gründer der rö¬
mischen New Orleans Jazz Band 1946 gehört haben; er war
das älteste von drei Kindern; leider ist er vor vielen Jahren vor¬
zeitig verstorben.)
Man wird sich jetzt fragen, warum Spaventa und seine An¬
hänger keinen Repressionen durch die Regierung ausgesetzt
waren. Ich kann die Frage auch nicht beantworten, aber man
könnte sich vorstellen, daß Spaventa entweder als zu wichtig
oder als zu unbedeutend betrachtet wurde.
Die überwältigende Mehrheit der Einwohner, die man als
politisch indifferent beschreiben könnte, und auch die meisten
der - vielleicht nur pflichtgemäßen — Faschisten, so der Bür¬
germeister, „Don“ Armando Ciarrapico, der Gemeindesekretär
und der örtliche „maresciallo‘“, Befehlshaber ohne Vollmachten
des Polizeipostens, versäumten nie, uns mit aller Höflichkeit
und Wertschätzung zu behandeln. Ciarrapico, der hochange¬
sehene Eigentümer der örtlichen Ölmühle, verehrte uns regel¬
mäßig insgeheim eine Flasche des köstlichen und nahrhaften
abruzzischen Olivenöls. (Bis heute ziehen ich und auch meine
in den USA geborene Frau Corinne ein in kaltgepreßtes Oli¬
venöl getunktes Stück italienisches Weißbrot allen anderen
Vorspeisen vor.) Signora Pedretti, die kluge Besitzerin der
Bäckerei, verweigerte uns nie einen Leib des noch ofenheißen,
rationierten Brotes. Im Unterschied zu den meisten einheimi¬
schen Bewohnern der größeren Städte litten wir, die offiziell zu
verderblichen Feinden des Staates erklärten Flüchtlinge, nie¬
mals Hunger.
Unser Wohlergehen unter Umständen, die uns als paradie¬
sisch erscheinen mußten, dauerte ungefähr ein Jahr. Am 25.
Juli 1943 wurde Mussolini gestürzt, und unsere antifaschisti¬
schen Freunde und ich zogen, die Garibaldi-Hymne singend,
die Hauptstraße hinunter. Wir freuten uns, daß die Alliierten
nach Kalabrien vorgerückt waren (und dabei zufällig auch das
Lager Ferramonti befreit hatten), und nachdem Italiens Mar¬
schall Badoglio am 8. September kapituliert hatte, glaubten
wir, nun sei der Krieg für uns vorbei. Da irrten wir uns. Die
Deutschen hatten unmittelbar nach dem Sturz Mussolinis be¬
gonnen, die militärischen Einrichtungen Italiens zu besetzen,
und Mussolini selbst wurde aus der Abruzzenfestung, nicht
weit von uns übrigens, wo ihn die neue italienische Regierung
gefangen hielt, rasch befreit. Zugleich mit der Kapitulation be¬
setzte die deutsche Wehrmacht alle wichtigen Städte.
Von da an wurde alles schnell schlechter. Ein oder zwei
Tage später war am Hauptportal des Rathauses eine Prokla¬
mation des Oberkommandierenden der Besatzungsstreitkräfte,
Feldmarschall Kesselring, angeschlagen. Befohlen wurde die
sofortige Verhaftung und Auslieferung an die Deutschen aller
politischen und „rassischen‘“ (das betraf uns) Internierten sowie
der alliierten Kriegsgefangenen — die vom italienischen Mili¬
tär nach der Kapitulation freigelassen worden waren und ihren
Weg in den Süden suchten, um sich den vorrückenden briti¬
schen und US-amerikanischen Streitkräften anzuschließen.
Wenige Tage später bezog eine Abteilung der gefürchteten mör
derischen Waffen-SS Quartier in unserem Dorf, und zwar im
riesigen Haus des Dr. Luce, einer von zwei Dorfärzten und
wohlbekannter Faschist.
Unser Bürgermeister und der „maresciallo“ erklärten uns,
freilich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, alsogleich, daß
sie nicht beabsichtigten, den Befehl Kesselrings zu befolgen.
Und beim Wein wurde allgemein bekannt, daß die Dorfbe¬
wohner ganz Nord- und Mittelitaliens dabei halfen, Internierte
zu verstecken, und ebenso die alliierten Soldaten mit Nahrung,
Kleidung, gelegentlich Medikamenten unterstützten, sie oft für
Tage, ja für Wochen verbargen, und das alles in voller Kenntnis
dessen, daß die Entdeckung solcher hochverräterischer Akte
den sofortigen Tod bedeutete. So erfuhren wir nach dem Ende
der deutschen Besatzung, daß die Fälle von Auslieferungen al¬
liierter Soldaten in Italien nur einen ganz kleinen Prozentsatz
ausmachten, und unser Dorf gab ein hervorragendes Beispiel
dafür, daß kein einziger Einwohner, Mann, Frau oder Kind,
weder uns, noch das etwa ein Dutzend alliierter Ex-Gefangener
verriet, die nicht nur durch unser Dorf kamen, sondern hier so¬
gar etliche Wochen blieben, hoch oben in den Bergen versteckt
und regelmäßig mit Nahrung und Kleidung versorgt (es konn¬
te dort ganz schön kalt werden), während viele andere den Tod
fanden. Zwar zeigte sich das eine oder andere Mal jemand
über-rascht, daß wir, die wir Deutsch sprachen, nicht den
Wunsch verspürten, uns mit unseren lieben Landsleuten von
der Wehrmacht zu unterhalten, aber wenn man einmal andeu¬
tete, wie die Dinge lagen, schienen auch diese Leute ganz gut
zu verstehen. Nicht ein einziger von den alliierten Soldaten
kam ums Leben. Unser Bürgermeister und unser Polizeichef
deckten die geheimen Versorgungsgänge vom Dorf zu den
Höhen, organisierten sie mit und nahmen oft an ihnen teil.
Eines Nachts, als sich das Bein eines der alliierten Soldaten,
der von einem Hund gebissen worden war, entzündete, ging so¬
gar Dr. Luce, derselbe, welcher vielleicht unser führender
Faschist und natürlich der Gastgeber der SS-Einheit war, wohl
oder übel zu einer der entlegenen Berghütten mit, um dem
einstmaligen Feinde, der es für ihn mutmaßlich noch immer
war, ärztliche Hilfe zu leisten.
Unsere verzwickte Lage blieb einige Monate bestehen. Be¬
kanntlich wurde der alliierte Vormarsch lange Zeit auf der
Westseite des ‚Stiefels’ im Süden von Rom bei Monte Cassino
aufgehalten. Die Abruzzenregion und mit ihr unser Dorf am
Südufer des Flusses Sangro befand sich auf nahezu derselben
Breite, aber auf der östlichen, der adriatischen Seite. Für fast
drei Monate wurde der alliierte Vormarsch an der ganzen Front
auf halbem Weg zwischen Kalabrien und der Lombardei auf¬
gehalten. Doch im späten November befand sich die kleine
Stadt Atessa, die wenige Meilen entfernt im Süden von uns auf
der anderen Seite des Gebirgszuges lag, in der Hand der Ach¬
ten Britischen Armee, dieweil Bomba, nachdem die Deutschen
abgezogen waren, ein Niemandsland blieb und so ebenso
Opfer von Bombenangriffen wie einer Rückkehr der Deut¬
schen werden konnte. Wer wußte es schon genau?
Die beiden d’Intino-Brüder und ich berieten sich mit unse¬
ren alliierten Gästen sowie mit dem Bürgermeister und dem
„maresciallo“. Es war an der Zeit, daß wir uns in Bewegung
setzten. Im Dunkel der Nacht gingen wir mit den Soldaten über
das Gebirge. Am 3. Dezember 1943 wurden wir von einer vor¬
geschobenen neuseeländischen Einheit herzlich aufgenommen,
bei der uns die von uns begleiteten Soldaten aufs wärmste
empfahlen. Ein paar Tage später folgten uns meine Eltern nach.
So endeten die Jahre der unmittelbaren Lebensgefahr. Weni¬
ge Wochen nach unserer Ankunft in Atessa organisierte die
British Army für uns einen Transport nach Bari, wo wir an¬
fangs, aber nicht lange in einem Flüchtlingslager lebten. So¬
wohl mein Vater als auch ich fanden sofort Beschäftigung bei
der Armee, zuerst als Übersetzer und dann in etwas verant¬
wortungsvollerer Stellung, und so übersiedelten wir in eine
Privatwohnung in Bari. Kurzzeitig wurde mir Arbeit als „bat¬