Von den Erwachsenen, die in die Verbannung gehen mußten,
blieben die meisten der Muttersprache wenigstens insoweit
treu, daß sie fortfuhren, deutsche Bücher zu lesen. Bei den
Kindern lagen die Dinge anders. Sie besuchten die Schule im
Asylland, sie spielten mit fremdsprachigen Freunden, sie ver¬
gaßen sehr oft die Sprache ihrer Heimat. Aus diesen Gründen
hatten es die Autoren von Kinder- und Jugendliteratur im Exil
ganz besonders schwer, es sei denn, daß sie bereit waren, in
fremder Sprache neu zu beginnen. Dieser Versuch wurde von
mehreren — Maria Gleit, Hertha Pauli, Oskar Seidlin — mit ei¬
nigem Erfolg unternommen. Aber auch die in Deutsch weiter¬
schreibenden Jugendschriftsteller stehen am Ende der Exilzeit
keineswegs mit leeren Händen da.'
Trotz der zumeist widrigen Lebens- und Arbeitsbedingungen,
der Erfahrung der Fremde und des Sprachproblems, auf das
Franz Carl Weiskopf hinweist, war das Exil eine produktive
Stätte literarischen Schaffens. Anna Maria Jokl und Ruth
Rewald, deren Texte hier dargestellt werden sollen, mußten
emigrieren, und ihr Schreiben war maßgeblich von Flucht¬
erfahrung und dem Leben in fremder Umgebung geprägt.
Die biografische Datenbank der Österreichischen Exil¬
bibliothek weist 143 Personen auf, die als Autorinnen und
Autoren, Illustratorinnen, Übersetzer und Verleger Beiträge zur
Kinder- und Jugendliteratur des Exils geliefert haben. Knapp
40 % davon sind Frauen.” Auf den ersten Blick scheint diese
Zahl das Klischee vom Kinderbuch als weiblicher Domäne zu
stützen, allerdings schienen die besonderen Lebensbedin¬
gungen im Exil die wachsende Produktion an Kinder- und
Jugendliteratur gefördert zu haben, nicht zuletzt aufgrund fi¬
nanzieller Not, mit der zahlreiche Autoren und Autorinnen
konfrontiert waren. Zu Heimatlosigkeit und Fluchterfahrung
kam die existentielle Bedrohung, die Sorge um das materielle
Überleben in fremder Umgebung. Besonders Frauen wandten
sich im Exil früher als Männer mehr oder weniger lukrativen
‚„Brotberufen’ zu, um die existenzielle Grundlage ihrer Familie
zu sichern, und nahmen auch Arbeit ‚unter ihrem Stand’ an.’ So
verdiente auch Ruth Rewald ihr Geld als Buchhändlerin, Über¬
setzerin und Nachhilfelehrerin. Was F. C. Weiskopf unter vie¬
len anderen für die Schreibbedingungen des Exils feststellt,
erklärt zum Teil, warum sich Autorinnen stärker jenen literari¬
schen Genres zuwandten, die sich leichter verkaufen ließen:
„Die Arbeits- und Lebensbedingungen des Exils waren dem
literarischen Experiment, der formalen Neuerung nicht gün¬
stig.““ Um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, galten
avantgardistische und experimentelle Texte, noch dazu in vie¬
len Fällen in fremder Sprache publiziert, als denkbar ungün¬
stig. Sich der möglichen Konsequenzen eines Schreibens in
Hitler-Deutschland bewußt, wählten Anna Maria Jokl und
Ruth Rewald das Exil. Doch diese Alternative zog beträchtli¬
che Erschwernisse der Schreib- und Publikationsbedingungen
mit sich. So konnte die 1937 entstandene Perlmutterfarbe von
Anna Maria Jokl erst 1947 erscheinen und für Ruth Rewald er¬
wies es sich in der ersten Zeit als fast unmöglich, einen
Verleger für ihre Texte zu finden.
Mein lieber Hans! Es ist soweit. Ich fahre zur Erntearbeit, ich
weiß noch nicht wo: nahe Deiner Geburtsstadt oder noch näher
beim Doktor. Dort werden wir sicher bleiben. Ich glaube nicht,
daß Du so bald Nachricht bekommst. Aber Du wirst etwas
hören, sorgt Euch darum nicht. Außer der Trennung von Anja
wird mir nichts etwas ausmachen. Anja ist zunächst bei einer
wohlhabenden netten Nachbarin geblieben, bis Frau Renaud
sie holt. Euch allen guten Mut. Ich habe ihn. Es wäre wunder¬
bar, wenn ich mit meinen Reisegefährtinnen zusammenbleiben
könnte. Es ist nicht wie in der Familie, aber sie sind fröhlich und
arbeitsam, Bäuerinnen. Dir alles Gute! Ruth.’
Die Karte, die Ruth Rewalds Ehemann Hans Schaul in ei¬
nem Lager in Djelfa (Algerien) erreicht, wo er seit dem Früh¬
Jahr 1941 interniert ist, trägt den Poststempel Angers/Maine¬
et-Loire, 18. 7. 1942. Sie ist das letzte Lebenszeichen von Ruth
Rewald. Am 18. und 19. Juli werden von den Behörden die De¬
portationslisten erstellt. In Angers sind auf ihnen 824 Juden;
Ruth Rewald ist unter der Nummer 68 aufgeführt. Am 20. Juli
1942 verläßt der Transportzug den Bahnhof von Angers in
Richtung Auschwitz.‘
Geboren am 5. 6. 1906 in Berlin als Tochter einer jüdischen
Kaufmannsfamilie. Von 1925 bis 1929 studiert Ruth Rewald
Jura in Berlin und Heidelberg, schließt ihr Studium jedoch
nicht ab. 1929 heiratet sie den jüdischen Rechtsanwalt Hans
Schaul. Zwei Jahre später erscheinen ihre beiden ersten Erzäh¬
lungen für Kinder unter dem Titel „Rudi und sein Radio“ und
„Peter Meyer liest seine Geschichten vor“. Bereits in diesen
Texten sind jene Motive zu erkennen, die in ihrem späteren
Werk wiederkehren werden: Lernen und Bildung als verständ¬
nisvolle Förderung des eigenständigen und vor allem kreativen
Handelns von Kindern. 1932 gelingt Ruth Rewald ihr erster
großer Erfolg mit dem Jugendroman „Müllerstraße. Jungens
von heute“. Drei Monate nach dem Erscheinen ist die erste
Auflage von 7.000 Exemplaren vergriffen. Über siebzig Kriti¬
ken sind nachweisbar, denen ein positiver Grundtenor ge¬
meinsam ist und die häufig Vergleiche mit Erich Kästners
Bestseller „Emil und die Detektive“ anstellen.’ Ende des Jahres
1932 beginnt sie die Arbeit an einem Mädchenbuch mit dem
Titel „Achtung Renate!“, das allerdings nach der Machter¬
greifung Hitlers nicht mehr erscheinen kann. Unter dem Ein¬
druck der Bücherverbrennungen reist sie im Mai 1933 mit
ihrem Mann, der als Rechtsanwalt kurz zuvor mit Berufsverbot
belegt worden ist, nach Paris. Um zum Lebensunterhalt der
Familie beizutragen, kauft sie sich in eine Buchhandlung ein.
Nach deren Schließung muß sie sich mit Gelegenheitsarbeiten
wie Nachhilfestunden über Wasser halten. Versuche, ihre in
Deutschland erfolgreichen Texte wie Müllerstraße ins
Französische übersetzen zu lassen, scheitern. Nach zahlreichen