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Rückschlägen und unter dem Druck, aus finanziellen Gründen wieder schreiben zu müssen, entsteht in den ersten Monaten des Jahres 1934 „Janko. Der Junge aus Mexiko“.* Ihr Manuskript wird von den meisten Verlagen, so auch vom renommierten Exilverlag Querido in Amsterdam, abgelehnt. Schließlich erscheint der Text bei Sebastian Brant und ruft sofort breites Echo in der internationalen Presse hervor. Janko ist eines der wenigen Kinderbücher, in dem die Lebensbedingungen des Exils thematisiert werden. Nach ihrer Teilnahme am „Ersten Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur“ in der Zeit vom 21. bis zum 25. Juni 1935 beginnt sie mit der Arbeit an einem Kinderbuch mit dem Titel „Die Kinder aus China“, das 1937 durch Vermittlung von Lisa Tetzner in der Schweizer Gewerkschaftszeitung „Der öffentliche Dienst‘“ erscheinen kann. Im selben Jahr wird ihre Tochter Anja geboren. Ihr Ehemann entschließt sich nach den gescheiterten Bemühungen um ein Visum für die USA, am Spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Auch Ruth Rewald hält sich 1937/ 1938 längere Zeit in Spanien auf, wo sie für ihr nächstes Buch, Vier spanische Jungen, recherchierte. Diese Erzählung kann infolge des deutschen Einmarsches in Frankreich nicht mehr gedruckt werden und erscheint erst 1987.'° Als sich Anfang Juni 1940 die deutschen Truppen Paris näheren, müssen Ruth Rewald und ihre Tochter nach Les Rosiers-sur-Loire fliehen. Hans Schaul ist zu dieser Zeit im Lager Le Vernet interniert. Zwei Jahre nach der Ermordung ihrer Mutter wird auch Anja im Alter von sieben Jahren in den Gaskammern von Auschwitz getötet.!' Das Exilschicksal Ruth Rewalds ist kein untypisches. Trotz massiver finanzieller Probleme und der Fremdheit im Asylland, schrieb sie weiter. Wie die meisten ihrer Kollegen hatte sie große Schwierigkeiten, Verleger für ihre Bücher zu finden. So war eine Veröffentlichung einiger im Exil produzierten Texte erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs möglich. Ruth Rewalds gesamtes Werk ist als humanistischer Protest und als eine Alternative gegen die auf Rassenhaß, Unmenschlichkeit und Kriegsbereitschaft zielende Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus zu lesen. Im Janko, ihrem ersten im Exil entstandenen Buch, thematisiert sie, was für Tausende Kinder und Jugendliche zur Realität geworden ist — das Leben in der Fremde. Sie führt in ihrem Text das bürgerliche Ideal einer ‚heilen Kinderwelt’ ad absurdum und schildert statt dessen die Konflikte und Ängste, denen Menschen in einem fremden Land, das ihnen gnadenhalber Unterkunft gewährt, ausgesetzt sind. Ruth Rewald stellt sich mit Janko die Aufgabe, zwei Beiträge zu leisten: in einem Kinder- und Jugendbuch das Exil für Kinder und Jugendliche begreifbar zu machen und darin ein Leben mit der Perspektive auf ein vom Faschismus befreites Deutschland zu entwerfen." Sie erfüllt in ihrem Text auch jene Forderungen, die Heinrich Mann in seinem Aufsatz „Aufgaben der Emigration“ postuliert hat: Es solle weder geklagt noch Rache geschworen werden, und das Versäumnis der Republik ist in demokratischer Erziehung des Volkes zu überwinden." Janko ist von der Autorin als Person angelegt, in der sie das Exildasein paradigmatisch für ihre jugendlichen Leser und Leserinnen veranschaulicht, andererseits prädestiniert sich Janko, ‚der Fremde’, als Identifikationsfigur für Kinder, die selbst mit ihren Eltern ins Exil fliehen mußten. Obwohl Ruth Rewald genau die Ängste des Jungen, Gefühle wie Heimweh und Einsamkeit, die Isolation durch die Klassenkameraden nachzeichnet, überwiegt die Betonung positiver Aspekte. Das Leben im Exil wird zu einer gegenseitigen produktiven und schöpferischen Herausforderung für beide Seiten, für Exilierte und Asylgeber. Im Verhältnis zwischen Janko und dem sozialen Umfeld einer deutschen Kleinstadt gestaltet sie die Schwierigkeiten, vor allem aber die Möglichkeiten und Anforderungen des Exils.'* Sie vermeidet es bewußt, ein düsteres Bild zu zeichnen, obwohl sie selbst die Schwere des Exillebens erfuhr. Statt dessen versucht sie, Kindern Mut zu machen, und legt dem Text eine optimistische Haltung zugrunde, die an ‚das Gute im Menschen’ glaubt, vor allem aber an dessen Lernfähigkeit. Rewald hat selbst die Geschichte des Janko gegenüber einem Verlag als ‚unpolitisch’ bezeichnet." Tatsächlich scheint es ihr nicht weniger darum zu gehen, eine spannende Geschichte von den Abenteuern eines mexikanischen Jungen zu erzählen; den Text deshalb als unpolitisch abzustempeln, ist entweder als bewußtes Understatement der Autorin zu werten oder als Hinweis auf ihre ursprüngliche Schreibabsicht, die sich zugunsten eines durch und durch politischen Kinderbuches verselbständigt zu haben scheint. In Janko präsentiert sie eine Illusion, indem sie ihn mit all jenen Eigenschaften ausstattet, die ihr wertvoll für die Erziehung von Kindern scheinen, und so wie er die an ihn gestellten Aufgaben meistert, sollen auch andere Kinder ihr Leben im Exil bewältigen. Janko werden Attribute wie hilfsbereit, selbstbewußt, kameradschaftlich, fair und vor allem tolerant zugeschrieben. Aufkommendes Heimweh und das immer wiederkehrende Gefühl von Fremdsein werden durch seinen Optimismus minimiert, sodaß die Kritik nicht ganz unberechtigt ist, Rewald idyllisiere die Härte des Exils. Vor allem die bunten Schilderungen spannender Abenteuer in Mexiko gehen vielfach an der Realität vorbei, bedenkt man, daß sich Janko jahrelang als Straßenkind mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen hat. Selbst Dirk Krüger, der in seinen Arbeiten ein leidenschaftliches Plädoyer für die literarische Qualität von Ruth Rewalds Arbeiten gibt, räumt ein, daß der Gesamtzustand eher zu idyllisch gezeichnet sei, „besonders vor dem Hintergrund der tatsächlichen Situation in den deutschen Kleinstädten zu jener Zeit, den Erniedrigungen und Bedrohungen, denen sich die jüdischen Bürger ausgesetzt sahen.““'° Und doch geht es der Autorin auch darum, politische Zusammenhänge aufzuzeigen. In einem Exkurs blendet sie aus der Handlung aus und erläutert die Entstehung der „Akte Dubirof“. Jankos Fall wird nach langen bürokratischen Debatten zwischen seinen Verwandten und dem Jugendamt in Deutschland dem mexikanischen Minister vorgelegt. Diesem ist das Schicksal des Jungen zwar gleichgültig, er sieht darin jedoch eine günstige Gelegenheit, politische Vorteile aus der Affäre zu ziehen. Mexiko hat einige Jahre zuvor Amerika gestattet, auf mexikanischem Territorium nach Öl zu bohren. Jetzt will das Land die Ölressourcen wieder ausschließlich für sich selbst nutzen und deshalb die Konzessionen nicht erneuern. Die daraus resultierenden Unstimmigkeiten zwischen den USA und Mexiko wurden durch die Behauptung amerikanischer Medien verschärft, Mexiko habe hier nicht korrekt gehandelt. Im Fall Dubirof erkennt der mexikanische Minister nun eine willkommene Gelegenheit, den Amerikanern vorzuhalten, daß sie hier selbst alles andere als korrekt gehandelt haben, wenn sie ein aus Mexiko stammendes Kind, ohne viel zu fragen, einfach nach Europa geschickt haben. Janko wird durch einen Zufall zur „Akte Dubirof und zum Opfer politischer Machtspiele. „In Wirklichkeit standen politische Interessen und Gegensätze gegeneinander, und kein Blatt des vielen Papiers in der Akte Dubirof war 35