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lesen werden kann. In der Schule avanciert Gruber zum fragwürdigen ‚Führer’, der auch als solcher tituliert wird. Er operiert mit bewußt aufgebauten Feindbildern und Vorurteilen, Erpressung, Diskriminierung, Verleumdung und Schuldgefühlen. Die Autorin spiegelt in der Perlmutterfarbe jenes menschliche Fehlverhalten, das zur selben Zeit in Deutschland Staatspolitik geworden war: Feindideologie, Führerschaftsanmaßung, bedin gungsloser Unterwerfungsgehorsam, Rassenideologie. Die sich allmählich formierende Widerstandsbewegung siegt schließlich durch Überzeugungsarbeit, die als autonome Leistung der Jugendlichen geschildert wird. Gruber wird von den Mitgliedern der Opposition auf demokratischem Weg besiegt, das ursprünglich kleine Mißverständnis geklärt. „Denn wir alle [...] sollen darauf sehen und mithelfen, daß sich so etwas wie diese Geschichte nie mehr wiederholen kann. Wenn alle mittun, kann es nicht mehr passieren.‘”* Die Handlung endet utopisch mit dem Sieg der Vernunft - eine „implizit optimistische Aufforderung, den deutschen Nationalsozialismus durch individuelles Eintreten für Wahrheit und Gerechtigkeit und durch Solidarisierung mit den zu Unrecht Verfolgten zu bekämpfen.‘“” Die Perlmutterfarbe konnte erst 1948 in Deutschland erscheinen und wurde das von Kindern wie Erwachsenen statistisch meist ausgeliehene Buch öffentlichen Bibliotheken.” Anna Maria Jokl wählt für ihren Aufruf zu Friedfertigkeit und Toleranz einen parabelhaften Zugang, der ohne den moralischen, didaktisierenden Zeigefinger auskommt. Nicht Belehren und Überreden sind die Mittel, sondern Aufzeigen von Ursache und Wirkung. Anhand des Kampfes zwischen den Klassen A und B veranschaulicht sie in Konzentrischen Kreisen einerseits die Ent stehung der Feindschaft zwischen den beiden Gruppen, andererseits die Etablierung von Gegenpositionen und Lösungsmodellen. Die Autorin zeichnet auf der anderen Seite die Entwicklung eines rational bestimmten, pazifistischen Gegenmodells, einer Widerstandsgruppe, der es allerdings nicht so schnell wie der totalitär organisierten Truppe Grubers gelingt, sich zu formieren und konkrete Maßnahmen zu planen. ‚Appelle an die aufklärerische Vernunft’ erweisen sich als schwieriger zu realisieren und an den Mann, an die Frau zu bringen als die einfacher zu ‚verkaufenden’ Thesen Grubers von der Überlegenheit der eigenen Person. Es bedarf mehr als der reinen ‚panem et circenses-Methode’ von Gruber, sich seine Anhänger durch kleine Geschenke zu kaufen. Die Widerstandsbewegung ist auf das Erkennen von Wahrheit und Einsicht in die Mecha Umschlag von A. M. Jokls „Das süße Abenteuer“ nismen und Strategien der gegnerischen Partei angewiesen. Zudem ist die zahlenmäßig unterlegene Gruppe zu heimlichem Vorgehen gezwungen, zumindest solange, bis Grubers und Alexanders Intrigen beweisbar sind. Nicht das Starke siegt unweigerlich, sondern ‚die Wahrheit’, nicht das Schwache ist im Sinne faschistischer Terminologie ‚unwert’, sondern Sensibilität gegenüber den laut verkündeten Wahrheiten ist der einzig gangbare Weg. Anna Maria Jokl transportiert ihre Botschaft fast ausschließlich mit der Darstellung von Ursachen und Konsequenzen von Handlungen. Sie verzichtet auf explizite Belehrungen, sondern läßt die Kinder der Perlmutterfarbe durch ihre Handlungsweise für sich sprechen. Da sie die Charaktere nicht als perfekte Menschen zeichnet, sondern mit Schwächen und Ängsten ausstattet, wird der Lernprozeß für die kindlichen Leser erleichtert und wahrscheinlicher. Obwohl der Text zahlreiche Anspielungen auf den Nationalsozialismus enthält und als Parabel auf Deutschland gelesen werden kann, ist er von konkreten historischen Fakten loslösbar und auf eine allgemeine Ebene menschlicher Verantwortlichkeit transferierbar. Stellenwert der Kinder- und Jugendliteratur im Exil Im Moskauer Exil kam Mitte der dreißiger Jahre, initiiert von Alex Wedding, eine weitreichende Diskussion über Kinderund Jugendliteratur außerhalb des Deutschen Reichs in Gang, das der sozialistischen Jugendliteratur, als Gegner einer nationalsozialistischen Propagandaliteratur, einen breiten Boden schaffen sollte. In ihrem programmatischen Aufsatz Kinderliteratur von 1935 fordert Alex Wedding die Etablierung einer antifaschistischen, sozialistischen Kinderliteratur: Wir antifaschistischen Jugendschriftsteller müssen unserer Jugend die Kämpfer für eine wirkliche Kultur als ihr Vorbild 37