OCR
Daniel Winkler Amok! — Ein Film von Georg Stefan Troller Anläßlich seines achtzigsten Geburtstages am 10.12. 2001 hat die Maison Heinrich Heine, eine Dependance des Goethe Instituts/Inter Nationes in der Cité Universitaire Internationale von Paris, Anfang Dezember einen Filmabend mit Georg Stefan Troller unter dem Titel Un Austro-américain a Paris veranstaltet. Der Titel spielt freilich auf Trollers Flucht in die USA aus dem inzwischen in nationalsozialistischer Hand befindlichen „Österreich“ von 1938 an. Trotz eines Jobangebotes in den USA kehrt er nach dem Krieg als einer der ersten und als US-amerikanischer Soldat wieder zurück, aus, wie er selbst sagt, Sehnsucht nach Europa und der deutschen Sprache. Im Zentrum des Abends stand aber nicht Trollers eigene Emigrationsgeschichte, der bereits einige Tage zuvor im Fernsehen gehuldigt wurde, sondern, auch im Lichte der jüngsten amerikanischen „Ereignisse“, sein Fernsehfilm Amok!, der nicht der einzige Film ist, den Troller in den USA gedreht hat. Wie sich in der dem Film anschließenden Diskussion zeigte, empfindet Troller - trotz aller politischen Vorbehalte — nach wie vor eine große Sympathie gegenüber diesem Land, als dessen hervorragendste Eigenschaft er die Freiheit bezeichnet, dank derer er dort überall drehen kann, wo er will. Als verfrühtes Geburtstagsgeschenk erhält Troller eine von einer Sprachkursgruppe in Kooperation mit einem kleinen Düsseldorfer Verlag produzierte Übersetzung seines Buches über den 14. arrondissement von Paris, damit es auch seine zweite Tochter, die nicht deutsch spricht, lesen kann. (G.St. Troller: Unbekanntes Paris. Jenseits von Montparnasse. Ein Spaziergang durch das letzte „Pariser Dorf“. Düsseldorf: DüsselARTverlag 2000.) Der Film Amok! handelt von Wayne, einem 18jährigen Taiwanesen, dessen Vater seine Musterkarriere in der Luftwaffe aufgibt, um seinen Kindern in den USA eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Die Familie beginnt hier noch einmal ganz von vorne und eröffnet ein chinesisches Restaurant, in dem auch der Sohn mitarbeiten muß. Das Muster des american dream wird appliziert; das Streben nach Assimilation und Karriere prägt das Leben von Wayne. Seine Begeisterung für Sport und Musik, er spielt intensiv Baskettball und übt täglich 1 1/2 Stunden Geige, macht gleichzeitig eine enorme Reglementierung des Tagesablaufs nötig; schließlich kommen pro Woche zehn Stunden Arbeit im Restaurant hinzu, bei Abwesenheit der Eltern kümmert er sich auch noch um seinen kleineren Bruder. In der Schule ist er extrem gut und scheint sich zu langweilen. Seine Eltern geben ihn in ein „Elitecollege“. Scheinbar ohne Motivation, erschießt der 18jährige 1992 auf dem Campus einen Schüler und einen Professor, zwei wei52 tere Personen werden verletzt. Er wird von einem Gericht im Staat Massachusetts zu lebenslanger Haft ohne Begnadigungsmöglichkeit verurteilt. Im Rückblick schildert Wayne seine Motivierung zur Tat als ein déja vu-Erlebnis. Die Bibel, die er aus Protest, wohl auch gegen seine katholischen Schulzeit in Taiwan, verklebt hatte, schneidet er 10 Tage vor der Tat wieder auf, liest die Offenbarung des Johannes und bezieht sie auf sich: Er „bricht das Siegel auf“, fühlt sich bestimmt zur „Tat“, deren Umsetzung ihm aber bis zum letzten Augenblick nicht gewiß erscheint; das Anschaffen der Waffe sieht er lediglich als amerikanisches Ritual des Erwachsenwerdens. Die Munition für die Waffe läßt er sich per Post ins College schicken, das die Sendung nicht zensiert, um die persönliche Freiheit der Schüler zu respektieren; nach Erhalt kauft er sich in einem „Laden um die Ecke“ die Waffe. Im College, das einen recht liberalen Ruf genießt, lebt Wayne ziemlich isoliert, was er auf die geringe Anzahl von „Minderheiten“ zurückführt. Gleichzeitig ist es genau diese Liberalität, z.B. in Form offener Homosexualität oder der Praxis des Piercings, die ihn abstößt. Er gilt als extrem rechts, als homophob und rassistisch. Die „Tat“ selbst ist in ihrem Ablauf so wahnsinnig wie unerklärbar und banal. Wayne schießt am Campus wahllos auf ein einfahrendes Auto, in dem sich ein Lehrer befindet, was er aber zu diesem Zeitpunkt nicht weiß; dann auf ein zweites, aber die Ladehemmung seiner Waffe rettet sein „Objekt“. Als zweiten trifft es einen „Kollegen“, der gerade aus der Bibliothek kommt, schließlich schießt er auf die Wohngebäude des Campus, wobei zwei weitere Leute verletzt werden. Im Bewußtsein, seinen „Auftrag“ vollbracht zu haben, ruft Wayne gleich danach selbst die Polizei an. Seinen Verteidigern verbietet er später, auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren, und beauftragt sie, die Biographie der Opfer zu recherchieren, um aus ihr den Grund der von ihm vollzogenen, aber vorbestimmten Bestrafung der beiden „Opfer“ zu erfahren. Die Einsicht in seine Tat braucht einige Jahre; erst nach der Lektüre des Buches des ,,Opfervaters“ Ende der 1990er Jahre, in dem dieser den Tod seines Sohnes verarbeitet, erkennt er, dass die „Tat“ ein Verbrechen und kein Auftrag Gottes war. Troller zeichnet diese „Geschichte“ in Form eines qualitativen Portraits, das aus sieben Interviews besteht, nach. Zu Wort kommen Wayne selbst, seine Eltern, eine ehemälige Lehrerin, der Verteidiger, schließlich der Vater und die Schwester des ermordeten Jungen. Die Kameraeinstellungen sind relativ fix und bestehen im wesentlichen aus Portraitaufnahmen der Personen, auf kommentierende oder gar stigmatisierende Kameraschwenks und Verfolgungsfahrten wird verzichtet. Die Interviews wurden an drei verschiedenen Orten aufgenommen, in Montana, Massachusetts und an der Ostküste, am Ort des Colleges, am Wohnort der Eltern von Wayne und des erschossenen Studenten. Die Interviews sind narrativ geschnitten, d.h. am Anfang des Films steht die Tat, am Ende die Einsicht Waynes in das Verbrechen, wobei der Film aber mit einer Einstellung des Vaters des „Opfers“ endet. Eingeführt und unterbrochen werden die Interviews lediglich durch den behutsamen Einsatz einer stilisierten Autofahrt des Filmteams an die verschiedenen Orte, die Personen werden allerdings nie gezeigt. Auch auf der Tonebene wird mit Kommentaren äußerst sparsam umgegangen; gemäß Trollers Motto „Ich stelle nur Fragen“, bleibt der englische Originalton der Interviews erhalten und Troller übersetzt die meisten Passagen synchron. Heikle Fragen wie die der sexuellen Identität Waynes im Kontext seines Schwulenhasses oder die des generellen Umgangs mit Waffen in den USA werden den ZuseherInnen nicht aufgedrängt oder gar für sie beantwortet. Nur nebenbei wird in die Interviews das Faktum, dass es in den USA mehr Waffen als Menschen gibt (pro Stunde werden über 2.000 Schußwaffen hergestellt), eingeflochten. Auf diese Weise entsteht nicht nur eine feinfühlige Reportage über den „Täter“ und das Phänomen Amok, sondern eine Reihe von Einzel- und Milieuporträts, die jede/n InterviewpartnerIn irgendwie (auch) sympathisch erscheinen lassen, gleichzeitig aber den Kontext der Tat, also die möglichen Ursachefaktoren beleuchten. Die Diskussion über den Film dreht sich so um die Frage nach den psychologischen Ursachen und Folgen, Stichworte Haß, Rassismus, religiöser Wahn, familiärgesellschaftlicher Druck, Schuldgefühl der Eltern, gleichzeitig zeigt sich im Publikum im Kontext des jüngst von den USA eröffneten Afghanistankrieges auf deutscher Seite auch ein gutes Stück Anti-Amerikanismus, der das Phänomen Amok auf eine sozialisatorische Folgeerscheinung des unsolidarischen kapitalistischen Gesellschaftssystems zu reduzieren versucht. Troller und andere DiskutantInnen halten dem das Verständnis von Amok als zunehmendes, aber rätselhaftes internationales Phänomen entgegen. In dessen nur bedingt zufrieden stellender psychologischer Erklärbarkeit liegt auch Trollers „Faszination“ sowie die Motivation, darüber einen Film zu drehen, begründet. Schließlich verlangt das Phänomen Amok einen ganz anderen (filmischen) Zugang als rational herleitbare Erscheinungsformen, wie „normaler“ Mord aus Eifersucht... Amok! von Georg Stefan Troller. Produktion: Kick Film GmbH Jörg Bundschuh, München. Deutschland, 2000. — Am 29.11. 2001 wurde auf Arte u.a. Trollers Film Autodescription/Selbstbeschreibung gesendet. Mehr zu Werk und Biographie Trollers bieten: Susanne Marschall/Bodo Witzke (Hg.): ,, Wir sind alle Menschenfresser“. Georg Stefan Troller und die Liebe zum Dokumentarischen. St. Augustin: Gardez! Verlag 1999.