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Urinkübel wälzenden Maus, während man doch eine Brille trägt, die anstelle von Gläsern Blech hat, und man wie ein Blinder am Arm geführt wird, oder das Öffnen einer Tür, die es nicht gibt: ,,... es waren zwei Klomuscheln in Nischen ohne Türen“, und genau sechs Zeilen weiter: „... mit heruntergelassenen Hosen stoße ich die klinkenlose Tür auf und stecke den Kopf hinaus.“ Schlattner behauptet in einer seiner Übertreibungen, daß die Klosetttüren in Rumänien nicht mit „Frauen“ und „Männer“ beschildert waren, sondern mit „Genossinnen“ und „Genossen“. Ebensowenig glaubwürdig sind die unzähligen Szenen, in denen er mit Securisten bei Verhören über ausländische Autoren und Philosophen debattiert. Bekannt ist, daß die Mehrheit der Offiziere und Agenten der Securitate in den 1950er Jahren nicht aufgrund ihrer Ausbildung angestellt wurden, sondern vornehmlich aus Proletarierfamilien stammten und durch ihre Handlungen die Treue zur Partei beweisen sollten. Schlattner selbst gibt im Buch zwei wunderbare Beispiele: das des Nicolae Magda, der eben die zweite Volksschulklasse absolviert hatte und als Brandwächter tätig war, jedoch eine Securitateuniform besitzt, um sie bei speziellen nächtlichen Missionen zur Hand zu haben. Das zweite Beispiel ist das des Staatsanwaltes im eigentlichen Prozeß, der „... ziemlich schwer buchstabierte“. Ob derartige Leute das Kapital oder Lenins Thesen, geschweige denn Thomas Mann oder Maxim Gorki, gelesen haben, ist zu bezweifeln. Solche Unstimmigkeiten können nur dazu führen, daß für den Leser die Glaubwürdigkeit von Schlattners Verteidigungsplädoyer leidet. Es wird sich noch zeigen, ob es sich bei Rote Handschuhe um einen Roman oder eher um ein Dokument zur deutschsprachigen Literatur Rumäniens handelt. Jedenfalls werden auch andere Autoren außer denen der 5-er Gruppe in dem Buch ‚behandelt’, so zum Beispiel, in ironischen Anspielung, Alfred Margul-Sperber, der sich nicht mehr — wie Hans Bergel — gegen Unwahrheiten verteidigen kann. Hauptsache, der Autor der Roten Handschuhe, Eginald Schlattner, ,,... liebt sie, er liebt alle, ob sie Hugo Hiigel, heiBen, oder Hans Fritz Malmkröger und Peter Töpfner, ob sie durch ihn gelitten haben oder er an ihnen, er liebt sie verzweifelt.“ Ion Lihaciu, Iasi/Jassy (Rumänien) Eginald Schlattner: Rote Handschuhe. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2000. 602 S. Zwischen Assimilation und Bekenntnis zum Ostjudentum Joseph Roths literarische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus Durch Assimilation heimisch zu werden, ist verlockend, weil es den Juden als dem prototypischem Fremden eine unzweideutige Stellung verleiht, schreibt Zygmunt Bauman. Wie Joseph Roth Vor- und Nachteile der jüdischen Assimilationsbestrebungen abwog, wie er das Thema des Antisemitismus literarisch verarbeitete, bildet eine zentrale Fragestellung in Katharina Ochses Publikation über den bedeutenden Journalisten und Schriftsteller aus dem habsburgischen Galizien. Roths literarischer Umgang mit dem Judenhass, seine Fremd- und Selbstwahrnehmung als ostjüdischer Autor wurden bislang nicht eingehend einer kritischen Betrachtung unterzogen. Die Autorin ging davon aus, dass Joseph Roth mit der Form der literarischen Auseinandersetzung weitaus mehr Wirkungspotential ausschöpfe, als dies publizistische und wissenschaftliche Texte vermögen. Nach einem einleitend resümierenden Teil über die antisemitische Kulturpolitik im deutschsprachigen Raum mit ihrem unerschöpflichen Register an Feindbildern, Stereotypen und Vorurteilen belegt die Autorin anhand Roths 1923 publiziertem Roman Das Spinnennetz, wie das Thema des Antisemitismus mit dem Streben nach Karriere verwoben ist. Am Anfang seiner beruflichen Laufbahn wog Roth Fiir und Wider der Assimilation und Dissimilation ab. Er führte sich laut Ochse damit im Spinnennetz selbst „ein Schreckbild seiner eigenen möglichen Entwicklung vor Augen“. Indem er „die zwanghafte Weltsicht des Antisemitismus zuende“ dachte, drückte er seine Resignation darüber aus, ihm auf der Ebene der Politik zu begegnen. Die Autorin wertet den vielfach zu Unrecht als Erstlingswerk etikettierten Roman, der durch den politischen Weitblick und die Gesellschaftskritik Roths besticht, argumentativ überzeugend auf: wie bei Egon Erwin Kisch wurde Fiktionales mit Faktischem verbunden und ästhetisch geschickt verknüpft; durch die Verwischung der Grenzen zwischen Juden und Nicht-Juden deckte Roth den Gegensatz zwischen Deutschen und Juden als Konstruktion auf. Der lange in Deutschland publizierende Schriftsteller reagierte als „Ostjude“ besonders empfindlich auf die Ressentiments assimilierter Juden. Katharina Ochse weist anhand der Reportage Juden auf Wanderschaft (1925-27) nach, dass Roth für sich nunmehr Assimilation entschieden ablehnte. Durch die Zuschreibung von Eigenschaften, die sich mit dem Selbstbild von Nichtjuden decken, versuchte Roth in der Reportage die Sympathien für Ostjuden zu wecken. Mit dem oftmaligen Motiv der Wanderschaft, dem Aufbruch aus der Heimat, der Rückkehr signalisiert Roth allerdings — wie in seinem ersten Exilroman Tarabas (1934) — nicht Wurzellosigkeit bzw. Entwurzelung, sondern besetzt Migration positiv. Den Osten stilisierte Roth zum Tor der Nachmoderne hoch. Frankreich allerdings wurde nicht nur Roths Exil, sondern symbolisierte auch in seinem Werk den Ort der Freiheit — obwohl Antisemitismus dort ebenfalls beheimatet war. Regressiv bleibt für die Autorin am Roman Tarabas, der durch die starke Verwendung biblischer Motive den Antisemitis- mus als Antichristianismus deutet und im Gegensatz zum Spinnennetz einen religionsgeschichtlichen Erklärungsansatz bietet, die implizierte Sehnsucht nach der Rückkehr in eine vormoderne Welt. An den Ostjuden schätzte Roth die Ablehnung des Nationalismus. Dass er nicht nur aufgrund seiner Herkunft aus einem tibernationalen Staat an der Uberstaatlichkeit festhielt, sondern auch aufgrund seiner Uberzeugung, dass Nationalstaaten und deren Institutionalisierung homogener Konzepte den Antisemitismus fordern, spricht Katharina Ochse in einer Passage kurz an. Roths Verteidigung dieses plurinationalen Konzeptes hängt freilich auch mit der Identität der Juden als „nicht-nationale Nation“ zusammen. In seinen Werken insistierte Roth stets auf einer mehrdimensionalen Identität, die jeweils neu zu bestimmen ist. Katharina Ochse legt überzeugend dar, wie sich die Auseinandersetzung Joseph Roths als jüdischer Autor in seinen literarischen Texten mit dem Antisemitismus im Laufe von 15 Jahren vollzog; dabei berücksichtigt sie deren Einbettung in den sich verändernden politisch-historischen Kontext ebenso wie Roths Sozialisation und den zeitbezogenen Identitätswandel des Schriftstellers, der mit seinem Bekenntnis zum Monarchismus als einer rückwärtsgewandten Utopie eine Überlebensstrategie schuf. Ochse verbindet textimmanente Analysen — wie (biblische) Motive, Metaphern und Symbolik gerade bei Tarabas — mit der Analyse der politisch-historischen Funktion seiner Texte. Als Vergleichsparameter für die Verarbeitung des Antisemitismus in literarischer Fiktion zieht die Autorin gelegentlich die Werke von Autoren wie Lion Feuchtwanger, Hugo Bettauer und Heinrich Mann (Der Untertan) heran, für Roths Interpretation des Antisemitismus den psychoanalytischen Deutungsansatz von Sigmund Freud. Katharina Ochse leistet mit ihrer Dissertation einen wichtigen Beitrag zur Roth-Forschung. Gerade weil das Buch so gut ist, wäre ihm eine bessere Betreuung (hinsichtlich Layout und Satz) von Seiten des Verlages angemessen gewesen. Ursula Prutsch Katharina Ochse: Joseph Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. 254 S. 63