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Neuausgabe von Hans Janowitz’ Roman ‚Jazz Ein europäischer Chronist im Jahre 1999, der die Zeit um 1925 schildern wollte, hätte zu beginnen: Es war die Zeit des „Bubikopfes“, es war die Zeit des „kurzen Rockes“, der „Jleischfarbenen Strümpfe“, es war die Zeit der fortgelaufenen Söhne und entführten Töchter, es war die Zeit, da die Vaterländer, statt Gut und Blut von ihren armen Teilnehmern zu fordern, wie in den mörderischen Jahren 1914-1918 (da man fürs Vaterland nicht nur sterben durfte, sondern auch morden mußte), sich mit dem Hab und Gut der dem Weltkrieg entronnenen Steuersubjekte zufrieden gaben, es war die Zeit, da die Radiowellen, in wachsendem Andrang, täglich dichter und dichter den Erdball umspülten ... . es war die komische Zeit, da die „Vereinigten Staaten von Europa“ noch Utopie schienen und als Phantasie idealistischer Träumer von den sogenannten Realpolitikern belächelt wurden, es war die Zeit der wilden Freude an wilder Lausbüberei, an wildem Unfug im Ordnungsbereich, kurz: das wahre Programm der Zeit hieß: JAZZ. So beginnt der Roman „Jazz“ von Hans Janowitz, erstmals 1927 erschienen. Die turbulente Handlung nimmt ihren Ausgang in einem Zug in Großbritannien, als eine Dame, die eigenwillige Mae R., aus purer Langeweile in Ohnmacht fällt. Der mitreisende Lord Henry erfaßt die Situation, gibt sich als Arzt aus und befördert durch eine intensive Mund-zu-Mund-Beatmung Frau Mae R. augenblicklich wieder in den Wachzustand zurück. Dieses schockierende Verhalten hat Konsequenzen für den Sohn aus adeligem Haus: die Familie verstößt den jungen Mann. Da er nur Tennis und Geige spielen kann, seine Barschaft im Kasino verloren hat, übersiedelt Lord Henry nach Paris und gründet „Lord Punch’s Jazz Band“, deren Mitglieder allesamt merkwürdige Figuren sind: ein Exzentrikclown außer Dienst namens Punch, ein neapolitanischer Straßensänger, der ehemalige Matrose Tobby, der seine Karriere als Seemann beenden mußte wegen permanenter Seekrankheit, die ihm bei seinem Ziehharmonikaspiel naturgemäß hinderlich war. JazzBand-Boys sind nämlich alle einmal so etwas wie Matrosen gewesen, die immer seekrank werden. Die Mitglieder der Band nehmen Quartier in einem obskuren Hotel. Nicht bloß aus Geldmangel teilen sie die Unterkunft mit einer Mädchen-Tanzgruppe. Deren gemeinsame Auftritte avancieren zum Geheimtip der Eingeweihten. Natürlich begegnet Lord Henry einem Mädchen, der Tänzerin Baby mit ihren wunderschönen Beinen, und alles wäre gut, suchte nicht jene Lady Mae RR. aus triftigem Liebesgrund nach ihm. Da ein Jazz-Roman kein Roman wie andere ist, halten wir es mit dem Autor, dem es Spaß macht, den sogenannten Gang der Handlung 66 noch einmal und immer wieder noch einmal synkopisch zu unterbrechen. Immer wieder bringt sich Janowitz selbst als kommentierender Erzähler in die Geschichte ein, als Regisseur, der das Geschehen dirigiert, das in Nachtlokalen spielt, in der Glamourwelt von Unterhaltung und dem Drang gehorcht, das Leben in vollen Zügen auszukosten. Immerhin gilt es verlorene Jahre der Entbehrung nachzuholen und niemand weiß, was der nächste Tag bringen wird, wer zögert, riskiert, zu spät zu kommen. Obwohl Paris und London die Orte der Handlung sind, dienen Janowitz die Erfahrungen seiner Berliner Zeit Anfang der 1920er Jahre als Kulisse. Es ist ein buntes Kaleidoskop von Eintänzern, Animierdamen, Hochstaplern und skurillen Typen, dem „Würfelmenschen“ und dem Maler Astragalus, die sich im Rauch von Opiumzigaretten tummeln. Wenn Marmor verwittert, dann sprießt das Kokainlaster in üppigen Halmen. Dazu wird Schwedenpunsch konsumiert und Jazz als Ausdruck eines Lebensgefühls. Janowitz setzt dies in Sprache um, bedient sich einer expressionistischen Schreibweise, elektrisch frischdurchglühte Zimmer, bricht die Handlung, schweift ab, schrullige Einfälle, wie die Goldplombe im Gebiß des Hundes Tuckie, kontrapunktieren pathetische Formulierungen. Die Ufer, tragische Grenzen, sind das Ehebett der großen Freiheit. Alles ordnet sich dem Tempo des Erzählflusses unter, denn im Hintergrund ertönen die Klänge eines Saxophons. Janowitz komponiert keine Symphonie, sondern improvisiert ein JazzStück, das sehr wohl über eine exakt konstruierte Struktur verfügt. Ein weniger begabter Autor hätte es lediglich zu einem Kolportage-Roman gebracht. Die Geschichte endet mit einem Lustmord an der Animierdame „So-Etwas“, die mit Krethi und Plethi tanzte, gähnende Nächte in goldenen Nachtlokalen verbrachte. Hans Janowitz, 1890 im tschechischen Podebrady geboren, besuchte die Schule in Prag, wo er in Kontakt mit Franz Werfel, Willy Haas und Paul Kornfeld tritt, Franz Kafka und Max Brod kennenlernt. Die Eltern, assimilierte Juden, besitzen eine Ölmühle, und Hans wird nach München geschickt, um sich dem entsprechende Kenntnisse anzueignen. Die Literatur ist ihm wichtiger, und er geht nach Berlin. Über Nacht wird er berühmt als Autor des Drehbuchs von „Das Kabinett des Dr. Caligari“, das er gemeinsam mit Carl Mayer verfaßte. Er arbeitet für den Regisseur F.W. Murnau. Nach dem Tod des Vaters kehrt er zurück nach Böhmen und leitet die Ölmühle. Durch den Tod seines Bruders Franz, der 1917 an der Isonzofront gefallen war, und den Einfluß von Karl Kraus blieb Janowitz zeitlebens vehementer Pazifisten. Wann er genau in die USA emigrierte, ist nicht mehr feststellbar, jedenfalls versuchte er in Hollywood Fuß zu fassen, was mißlang. New York sollte seine neue Heimat werden. Er schlägt sich mit Rundfunkarbeiten durch, vergeblich trachtet er, an den Erfolg des „Dr. Caligari“ anzuschließen. Gemeinsam mit seiner Frau betreibt er eine Parfümerie, engagiert sich in jüdischen Hilfsorganisationen, wird 1950 amerikanischer Staatsbürger und stirbt 1954 in New York. Alle anderen Mitglieder seiner Familie sind im Holocaust umgekommen. Manfred Chobot Hans Janowitz: Jazz. Roman. Hg. und mit einem Nachwort von Rolf Rieß. Mit einer CD mit Jazz-Aufnahmen der 1920er Jahre, zusammengestellt von Viktor Rotthaler. Bonn: Weidle Verlag 1999. 144 S. OS 338,-/DM 46,-/SFr 43,50 Literatur (nicht Taxi) Orange II Man erinnert sich vielleicht, daß unter diesem Titel in ZW Nr. 2/2001, S. 88, eine Realsatire im Internet angekündigt wurde, was die Projektbetreiber nicht hinderte, zur Tat zu schreiten. „Über 100 Autorinnen und Autoren haben ihre Texte an die Börse geschickt. Knapp 40 Texte wurden für das ‚going public’ ausgewählt und von zuletzt 700 Mitspielern in ihr Portfolio aufgenommen.“ Sechs AutorInnen mit gutem Kursverlauf würden nun im Forum Stadtpark in Graz lesen. „Der erfolgreichste Autor und der beste Anleger werden prämiert“. Ich entnehme dies einer Aussendung der Projektbetreiber, mit der sie zu einem „Abschlußsymposion“ einladen (2./3.11. 2001). Mir bleibt nur das Zitat: Das Projekt www.literaturboerse.com konfrontierte die Literatur im Rahmen des Kunstfestivals „steirischer herbst“ mit den Mechanismen des Finanzkapitalismus. Das Projekt setzte sich zum Ziel, Literatur in den Rahmenbedingungen der Gegenwart zu diskutieren. Diese Rahmenbedingungen sind nun einmal Marktbedingungen. Wie sich im Rahmen des „Steirischen Herbsts“, einer von der öffentlichen Hand geförderten Kulturveranstaltung, die Mechanismen des Finanzkapitalismus durchgesetzt haben, gehört zu den mir unbekannten Interna. Mag sein, das Monopolstreben mancher Kulturmanager entspricht dem Monopolstreben des „Finanzkapitalismus“ zumindest in der Karikatur. Die Börse ihrerseits ist, historisch gesehen, eher eine Erfindung des sogenannten Konkurrenzkapitalismus und kein Charakteristikum des „Finanzkapitalismus“. Die Projektbetreiber werden schon wissen, was sie reden, oder glauben, was sie meinen. Wenn ich recht verstehe, meinen sie es nicht zynisch, sondern plädieren für kritische Unterwerfung. - K.K.