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nicht beliebige — abstrakte Formen in einen Zustand der Einfühlung versetzt werden könne, in dem er die den Formen sozusagen eingeschriebenen Gefühle des Künstlers nachzuvollziehen vermöge. Die Bestimmtheit der Form, die zum Effekt der Einfühlung führt, entspricht bei Kandinsky ungefähr dem „inneren Klang“, das dadurch beim Rezipienten ausgelöste Empfinden der „seelischen Vibration“. Diese Wirkung von Musik und abstrakter Malerei - die Seele vibrieren zu lassen, sie dadurch zu verfeinern, dem Materialismus zu entrücken und zum Geistigen zu erhöhen — hat fiir Kandinsky durchaus die Macht der Determination; es bedarf weder der Interpretation noch des Vorstellungskitzels der ästhetischen Suggestion noch der imperativen Anordnung, um den Rezipienten, eine gewisse Bereitwilligkeit vorausgesetzt, zum Empfänger der Schwingungen zu machen. Hierin ist eine neue Ermächtigung der Malerei und eine Kompensation ihres allmählichen Bedeutungsverlusts seit der Renaissance gegeben; jedoch eine Ermächtigung, die die der Malerei eigenen intellek- tuellen Werte liquidiert: nämlich ihren Modellcharakter für das Vorstellungsvermögen oder, um es pointiert mit dem frühen Marx zu sagen, ihre Tendenz, „die Sinne zu Theoretikern werden“ zu lassen. In dem Aufsatz Über die Formfrage von 1912 nennt Kandinsky die Kraft des „höherstrebenden Geistes“ den „weißen fruchtbaren Strahl“, die satanische Macht, die diese Höherentwicklung verhindern will, die „schwarze todbringende Hand“. Es handelt sich um die Phantasie eines ewigen Kampfes zwischen dem (guten) „abstrakten Geist“ und dem (bösen) „stumpfen Materialismus‘“. Die Menschheit sondert sich in zwei Gruppen, die Banausen und Materialisten einerseits, die sich der Befreiung des Geistes entgegenstellen, und die Gutwilligen andererseits, die sich den neuen Werten öffnen. Der modernistische Mythos des „Neuen“ verbindet sich hier mit der gnostischen Vision eines sich aus der Gebundenheit an die Materie fortschreitend befreienden Geistes, für den alle Kunst und letztlich das gegenwärtige Menschengeschlecht selbst nur zeitliche Formen seiner Manifestation sind. Die apokalyptische Stimmung, in der Kandinsky dergleichen geschrieben hat, findet sich auch in seinen Bildern dieser Zeit, die den zuerst musikalisch erlebten Geistestriumph über das Dunkle in dramatische, nach oben drängende Formen fassen — meines Erachtens ist diese Periode, die mit der Tätigkeit am „Bauhaus“ endet, die bedeutendste im Schaffen Kandinskys. Die Ablehnung der theoretischen Ansichten eines Künstlers kann nur sehr zum Teil Präjudiz sein für die Wertung seines Werks, welche gerade deswegen von einem anderen Standpunkt aus erfolgen muß. Doch sollte die Nähe des ästhetischen Irrationalismus zu anderen irrationalistischen pseudoreligiösen und politischen Strömungen der Zeit nicht unterschätzt werden; auch die Frühgeschichte der modernen Musik ist von solchen Affinitäten — sei es das Wagnerianertum, die Theosophie oder der Dionysos-Kult des George-Kreises — nichts weniger als frei. Nachtrag Beim Symposium in Moskau standen zwei Fragen im Raum: ob Kandinsky tatsächlich Theosoph gewesen sei, und ob er antisemitische Gesinnungen geäußert habe. In puncto Theosophie führe ich im Referat einen philosophischen Beweis, der auf der Feststellung der Übereinstimmung von Denkweisen beruht; doch bestätigte selbst Jelena HahlKoch (Herausgeberin des Briefwechsels Schönberg-Kandinsky), die eine von Beat Wyss behauptete Mitgliedschaft Kandinskys in der theosophischen Gesellschaft energisch bestritt, daß sich Kandinsky in der Zeit vor und während der Abfassung von Über das Geistige in der Kunst mit theosophischen und anthroposophischen Schriften beschäftigt habe. Später jedoch habe sich Kandinsky davon ganz abgewandt. Sehr detailliert hat auf dem Symposium Valerij Turtschin auf die theosophischen Anklänge in Theorie und Werk Kandinskys hingewiesen, Anklänge, die jedenfalls bis in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein das Vorhandensein einer esoterischen Symbolik in den Gemälden belegen können. Vor allem anthroposophische Varianten theosophischer Ideen scheinen mir bis zuletzt reichlich nachweisbar — insbesondere in dem zweiten Hauptwerk Kandinskys „Punkt und Linie zu Fläche“ von 1926. Der bekannte Beleg für den Antisemitismus Kandinskys sind die Briefe aus dem Jahre 1923, in denen Schönberg ihn dessen verweist, und der folgende Abbruch der Freundschaft durch Schönberg. (Vgl. Arnold Schönberg: Briefe. Hg. von Erwin Stein. Mainz 1958, S. 90ff.) Hahl-Koch und andere wenden dagegen ein, Kandinsky sei von Alma Mahler-Werfel, die zuvor mit dem ersten Direktor des „Bauhaus“, Walter Gropius, verheiratet gewesen war, fälschlich denunziert worden, am „Bauhaus“ antisemitische Äußerungen getan zu haben. Der Antwortbrief Kandinskys (u.a. abgedruckt im Katalog der Schönberg-Kandinsky Ausstellung der Tretjakow-Galerie, S. 119) räumt den Verdacht jedoch keineswegs aus — was auch von Schönberg so gewertet wurde (Brief vom 4.5. 1923). Aus der Antwort Kandinskys erhellt nicht nur, daß es tatsächlich antisemitisch zu interpretierende Aussagen seinerseits gegeben hat (Frau Hahl-Koch glaubt absurderweise, daß Kandinsky gar nichts von sich gegeben habe, was erklärungsbedürftig gewesen wäre); mehr noch: sie läßt Kandinsky meines Erachtens als „Weltanschauungsantisemiten“ erkennen, der aber für hervorragende Juden eine Ausnahme zu machen bereit ist. Dem widersprechen auch nicht die letzten Sätze in Kandinskys Brief: „Es ist kein großes Glück, Jude, Russe, Deutscher, Europäer zu sein. Besser ist Mensch. Aber wir sollen doch zum ‚Übermenschen’ streben. Das ist die Pflicht der wenigen.“ Solcher „Kosmopolitismus“ war noch allezeit mit dem Antisemitismus vereinbar oder jedenfalls opportun, wenn es einmal galt, diesen zu leugnen. Eine gewisse pragmatische Offenheit gegenüber dem Nationalsozialismus in der Anfangsphase seiner Herrschaft war einigen Meistern des „Bauhaus“ durchaus gegeben. Kandinsky soll sich in einem Brief vom 23. April 1933 an den Maler Willy Baumeister sogar dafür eingesetzt haben, daß die modernen Künstler in den „Kampfbund für Deutsche Kultur“, der von Alfred Rosenberg geleitet wurde, eintreten sollten. (Vgl. Jean Clair: Die Verantwortung des Künstlers. Avantgarde zwischen Terror und Vernunft. Aus dem Französischen von Ronald Vouille. Köln 1998, S. 52ff.) Bekanntlich beschritt die Kulturpolitik des Nationalsozialismus andere Wege. Ende 1933 ging Kandinsky nach Frankreich. Die Verklärung der abstrakten Malerei konnte beginnen. Leander Kaiser wird auf dem Symposium „Arnold Schönberg and His God“, veranstaltet vom Arnold Schönberg Center vom 26. Juni bis 29. Juni 2002, neuerlich zum Thema sprechen. 15