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und Bauchtyphus erkrankte? Und jetzt kommt ihr, wo alles schon aufgebaut ist, und nur wegen Hitler!“ Sie hatten vergessen, daß auch sie nur wegen der Pogrome in Rußland gekommen waren. Doch das war die allgemeine Einstellung. Kleine Vorkommnisse riefen ein unangenehmes Gefühl hervor: Um Schnürriemen oder Zahnpaste zugeteilt zu bekommen, mußte man sich bei einem Mitglied des Kibbuz melden, das dafür verantwortlich war. Wenn ich an der Reihe war, fing er an, in seinem Heft zu blättern und meinen Namen zu suchen, um mir zu sagen, daß mir Schnürriemen erst in einer Woche zukamen. „Aber er ist mir jetzt gerissen!“ Die Frauen hatten keinen Schönheitssinn. Die der zweiten Alija waren bekannt wegen ihrer schweren und aufreibenden Arbeit in ihren ersten Jahren im Land. Sie arbeiteten beim Häuser- und Straßenbau und bei jeder schweren körperlichen Arbeit. Deswegen war es kein Wunder, daß ihre Körper zerrüttet und ruiniert waren. Obwohl ich ihr Tun schätzte, begehrte das ästhetische Gefühl in mir auf. Ich konnte mich mit dem Anblick der Verantwortlichen für die Finanzen des Kibbuz nicht abfinden, die mit einem „Kova Tembel“ (der üblichen Kibbuz-Kopfbedeckung) in die Stadt fuhren. Das war kein Kompliment für sie. Die Frauen gingen in schwarzen breiten Hosen, die ihnen bis an die Knie reichten und ihre Beine mit den geschwollenen Krampfadern freiließen. ich zog immer Seidenstrümpfe an, ohne sie fühlte ich mich nackt. War ich doch an das Leben als Signorina in Rom gewöhnt. Rückblickend verstehe ich, daß ich mich damit lächerlich gemacht haben mußte. Es ist wirklich lächerlich, sogar im Sommer Seidenstrümpfe anzuziehen. Mit Peters Erkrankung kam es zum Bruch. Er bekam eine schwere infektiöse Gelbsucht und mußte ins Krankenhaus. Jetzt stellte sich heraus, daß der Kibbuz keine Krankenversicherung für uns bezahlt hatte, wozu er verpflichtet gewesen wäre. So mußten wir den Kibbuz verlassen und meiner Schwiegermutter dankbar sein, die uns in ihrer beschränkten Wohnung auf dem Carmel in Haifa aufnahm. Wenn ich heute darüber nachdenke, muß ich sagen, daß der hauptsächliche Grund meiner Abneigung gegen Kibbuz Jagur das kalte, ja fast feindliche Verhältnis der Mitglieder des Kibbuz zu uns war. Sie sahen in uns Menschen zweiter Klasse, etwas, das mich besonders schwer traf. Rückblick auf mein Leben Zurückblickend kann ich in voller Bescheidenheit sage, daß ich in meinem Leben etwas vollbracht habe. Als Jeckes und Neueinwanderer war unser Leben nicht leicht, doch es gelang uns, die Schwierigkeiten zu überwinden. Was denke ich über die Jeckes? Man kann sich auf sie verlassen. Diese Eigenschaft war mir, als ich aus Italien ins Land kam, sehr wichtig. Dort war ein Wort kein Wort und nach einigen Jahren war ich daran gewöhnt. Die zwei Jeckes, die uns halfen, als wir in den 1930er Jahren ins Land kamen, werde ich nie vergessen: Zwei Angestellte der Sochnuth (Jewish Agency), Rechtsanwalt Gutman und Anneliese Skai, ermöglichten uns, im Land zu bleiben. Da wir nur Touristenzertifikate hatten, hätte man uns aus dem Lande ausgewiesen. Doch die beiden gaben uns £ 1000, die wir den Briten vorzeigten, so daß wir hier bleiben konnten. Doch die Einwanderer aus Deutschland sind nicht alle aus demselbem Holz geschnitzt. Was ich bei ihnen nicht liebe, ist die Sparsamkeit und das Abgeschlossensein gegenüber der herzlichen Offenheit der Einwanderer aus Osteuropa. Ich erinnere mich auch noch an die Schwierigkeiten, die hebräische Sprache zu meistern. Im Land konnte man zwar auch mit Jiddisch auskommen, doch diese Sprache konnte ich nicht. Heute liebe ich sie sehr. Neulich hörte ich ein Werk von Schostakowitsch, das ganz auf jiddischen Liedern aufgebaut ist. Das war ein ganz besonderes Vergnügen. Auf Jiddisch kann man Dinge direkt von Herz zu Herz sagen, was man in Deutsch nicht kann. (Sie lacht ihr rollendes Lachen, das keinem anderen Lachen gleicht.) Der schönste Augenblick in meinem Leben war die Geburt meines Sohnes. Trotz der schweren Geburt war mir, wie wenn ich in eine andere Sphäre einträte, wie in ein neues Leben. Ich war glücklich. Die schweren Augenblicke in meinem Leben: Die Demütigungen im Kibbuz Jagur. Man sah uns als Bürger zweiter Klasse an. Heute läuft das Leben ganz ruhig und ich versuche, jeden Tag zu genießen. Als Musikliebhaberin gehe ich oft in Konzerte. Bis vor einem Jahr schwamm ich jeden Tag im Meer bei meinem Haus, doch jetzt ist der Strand an dem man schwimmen darf, weit weg und es ist mir schwer, dahin zu kommen in den glühenden Sommertagen. Einmal im Jahr fahre ich ins Ausland. Dieses Jahr fahre ich zu meinem Bruder nach England und zu Freunden nach Dänemark. Ich genieße meine schöne Familie, die sich sehr vergrößert hat. Die Familie meines Sohnes, der auf dem Gebiet der Computertechnik beschäftigt ist und zwei Söhne hat. Auch meine Tochter gründete eine Familie. Sie wurde fromm und führt ein orthodoxes Leben. Sie ist gelernte Krankenschwester und zieht vier Kinder groß. Nachdem ich aus Deutschland und Italien vertrieben wurde, fand ich hier ein Heim. Fremd dem Land, den Leuten und dem Judentum merkte ich, daß ich hier hergehöre. Darum denke ich nicht daran, an einem andern Ort zu leben. Aus dem Hebräischen übersetzt von Hanna Blitzer. Naomi Sommerfeld-Amitay wurde in Palästina als einzige Tochter jüdischer Einwanderer aus Berlin geboren. Sie absolvierte das Abitur am Realgymnasium in Rischon-Lezion, das Lehrerseminar mit Diplom und den Militärdienst. An der Bar Ilan Universität schloß sie ihre Studien mit einem B.A. in Jüdischen Studien und hebräischer Literatur mit besonderem Erfolg und ihren M.A. in Vergleichender Literatur mit Auszeichnung ab. Sie erwarb ein Diplom im Schulbibliothekswesen und arbeitete als Referentin in der Lehrer Aus- und Fortbildung. In den letzten Jahren hielt sie oft Referate über jüdische und israelische aktuelle Themen in deutscher Sprache, u.a. an Lehrerseminaren in Deutschland. Sie lebt in Rischon-Lezion mit Mann, Kindern und Enkelkindern. Zur Zeit arbeitet sie an einem groß angelegten Buch über Einzelschicksale jüdischer Einwanderer aus Deutschland nach Palästina in den 1930er Jahren, das dieses Jahr erscheinen wird. Im Vorwort schrieb sie über die „Fünfte Alija“, die Einwanderungswelle der deutschsprachigen Einwanderer: „Diese ... hatte eine andere Mentalität als alle früheren Einwanderergruppen. Seit der ‚Ersten Einwanderung’ von 1882 hatten sich vor allem osteuropäische Juden hier angesiedelt, die alle Schlüssel- und Machtpositionen einnahmen und über die Ankunft der deutschen Juden nicht gerade erfreut waren. Sie zeigten ihnen die kalte Schulter, und nach Aussage 41