OCR
In einem Klassenzimmer des Schulheims in Gewah geht es lebhaft zu. Die Kinder springen auf, während sie sich melden, andere rufen ungefragt dazwischen. Ein Junge mit schwarzen funkelnden Augen begleitet seine Worte mit den anschaulichsten, fast theatralischen Gesten. Alles aus Übereifer, von ihrer Phantasie fortgerissen. Eine liebenswürdige Disziplinlosigkeit, die sogar den Lehrer entwaffnet, der kaum ein Lächeln unterdrücken kann. Er hat mit den Schülern ein Kapitel aus dem Krieg Schauls gegen die Philister gelesen, und die Kinder benehmen sich so erregt, als finde diese Schlacht heute statt. Allerdings haben sie die Entschuldigung, daß heute nicht nur jüdische Geschichte gelesen, sondern wieder gemacht wird. Dennoch sind ihre temperamentvollen Ausbrüche ungewöhnlich. Diese Klasse ist ein orientalischer Winkel, mitten hineinversetzt in die geordnete Welt von Gewah. Dies sind jüdische Kinder aus Syrien, aus arabischen Städten, mit arabischer Muttersprache, welche die Jugendalijah nach einer Übergangszeit in Einwanderungslagern nach dem Kibbuz Gewah verpflanzt hat. Obwohl sich die Kinder schon fast ein Jahr in Israel befinden, so haben sie ihre besondere fremdartige Mentalität bewahrt. Sie sind Vollorientalen mit den charakteristischen Eigenschaften der Levantiner. Wie sich Juden in jedem Gastland assimilieren, so haben auch diese syrischen Kinder nicht nur gewisse Sitten und Gebräuche, sondern auch Temperament und Denkungsart ihrer primitiven arabischen Umwelt angenommen. Ihr Zeitgefühl ist uneuropäisch, sie kennen keinen Sinn für Eile oder gar Pünktlichkeit. Sie neigen zur Übertreibung im Ausdruck. Oft ist die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit und ohne böse Absicht bisweilen sogar zwischen Wahrheit und Lüge verschwommen. Sie sind leidenschaftlich erregbar, schnell zu Liebe oder zu Haß entflammt. Sie lieben den schönen Schein, das, was ins Auge fällt und dem Blick schmeichelt. Meist aus armen Familien, hatten sie wie ihre arabische ärmliche Umgebung Hochachtung vor den Äußerlichkeiten eines oberflächlichen Luxus. Für Geld ist fast alles käuflich, diese Alltagsweisheit der arabischen Märkte hat auch sie beeinflußt. So sah ihre geistige Verfassung aus, welche die Erzieher nach ihrer Ankunft zu berücksichtigen hatten. Einige hatten die Schule der Alliance Israelite besucht, die meisten waren Analphabeten und an kein geregeltes Leben gewöhnt. Israel war für sie, so nahe es geographisch auch lag, unendlich weit, von romantischem Zauber umwoben. Sie wußten fast nichts von der harten Wirklichkeit des Pionierlebens. Während der ersten Monate im Übergangslager erhielten sie den ersten Unterricht. Ihre Formung aber begann erst, als sie nach Gewah kamen, plötzlich hinein geworfen in ein völlig anderes Lebenstempo, in die kristallklare geordnete Welt der Siedlung. Es war nicht leicht für die Kinder, nicht leicht für die Erzieher. Schöne Worte und Beteuerungen reichten nicht aus, um wirkliche Arbeit vorzutäuschen; auch konnte man mit dem Lehrer nicht handeln, um den Aufsatz zu verschieben. Es war eine unbestechliche Welt, in der andere Werte galten. 44 Aber wie bei allen Kinder- und Jugendgruppen geschieht nach ihrer Einwanderung allmählich die erstaunliche Verwandlung, die sie in neue Menschen umgießt. Schon jetzt nach der kurzen Periode im Schulheim haben sich die Kinder aus Syrien so verändert, daß man sie kaum wieder erkennt, ihr Betragen, ihre geistige Haltung. Die Eindrücke ihrer frühen Kindheit werden verblassen wie ein flüchtiger Traum. Nur eines werden sie nie vergessen, das große Abenteuer ihres Lebens, als sie heimlich über gefährliche Schleichpfade von Syrien über die Grenze nach Palästina gebracht wurden. Wenn sie davon erzählen, so tragen sie es dramatisch vor, indem sie ihre eigenen Rollen wie die ihrer arabischen Führer vorspielen. „Wir wanderten nachts“, so erzählt die zwölfjährige Rachel. „Es war stockfinster, und wir tasteten uns vorwärts über Ziegenpfade, steil hügelaufund wieder bergab. Ein arabischer Schafhirt, der Geld bekommen hatte, versprach, uns bis an die Grenze zu führen. Ich hielt meine kleine achtjährige Schwester an der Hand. Sie fürchtete sich sehr. Plötzlich wurden wir von Schatten umstellt. „Halt!“, schrie es aus dem Dunkel. Dann blitzten Dolche auf. Es waren Araber, die uns bedrohten. „Gebt Geld her. Alles Geld, was ihr bei euch tragt. Sonst kommt ihr nicht lebend an die Grenze.“ — „Wir haben kein Geld.“ Wir hatten wirklich kein Geld bei uns. „Dann gebt eure Mäntel her, eure Kleider.“ Wir zogen die Mäntel aus, wir gaben ihnen unsere Decken. Wir zitterten vor Kälte und Furcht. Dann gingen wir ohne Weg weiter aus Vorsicht. Wir krochen manchmal durch Disteln und Dornen. Unsere Beine bluteten. Und dann tauchte wieder eine Gestalt auf. Aber diesmal war es ein Freund. Ein Kamerad aus der nächsten jüdischen Grenzsiedlung. Wir waren gerettet. Wir fielen ihm um den Hals. Wir tanzten aus Freude.“ Die Kinder unterbrechen die Erzählung. Jeder will noch etwas hinzufügen, jeder erinnert sich an eine andere aufregende Einzelheit des nächtlichen Marsches. Der Lehrer bringt sie zum Schweigen, indem er ihre Phantasie zweitausend Jahre zurückführt. „Ihr habt mir eine Frage nicht beantwortet. War Schaul als Feldherr im Recht, als er ohne Schmuel das Opfer vollzog und zum Angriff führte oder hätte er warten sollen?“ — Die Kinder werden still. Sie denken nach. Die Gedanken arbeiten in ihnen. Neues Leben arbeitet hinter ihren glatten Stirnen. Und dann sprudeln sie ihre Antworten heraus. Sie glühen vor Eifer. Vergangenheit und Gegenwart verschmilzt ihnen. Sie wissen, sie werden jüdische Geschichte fortsetzen. Die Zukunft dürfen sie mitgestalten. Zu Lola Landau vgl. die Besprechung des Buches von Birgitta Hamann in diesem Heft. -— Wir danken Frau Stevens, der Enkelin Lola Landaus, für die freundliche Genehmigung des Abdrucks und B. Hamann dafür, daß sie uns die Texte zur Verfügung gestellt hat.