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Er wollte nicht, daß öffentlich von ihm die Rede sei. Wenn sein Name im Druck erschien, verzog sich sein Gesicht und drückte gleichzeitig Schmerz und Widerwillen aus, was seinen Gesprächspartnern Gewissensbisse bereitete. Deshalb ist es Jetzt ganz besonders schwer über ihn zu sprechen, da er es weder lesen noch hören, noch es uns überhaupt ganz verbieten kann. Aber man kann seinem Willen nicht nachkommen und ihn in völlige Vergessenheit geraten lassen, wie er es wollte. Er kann Händen anheim fallen, deren Berührung nicht gerade zart ist. Diejenigen aber, denen es gegönnt war, jahrelang in seiner Nähe zu leben, von ihm wunderbare Dinge zu hören: Gespräche, Geschichten, Bemerkungen, unerhört präzise Definitionen — haben einen Schatz erhalten, den sie nicht für sich selbst bewahren dürfen ... So beginnt Lea Goldberg ihr Buch der Erinnerung an Abraham Sonne: Begegnung mit einem Dichter.' Wir lesen in diesem Band, bis heute einem der schönsten hebräischen Prosabücher: Zeit seines Lebens begegnete er vielen Personen, die das geistige Antlitz Europas prägten. Einige zählten zu seinen nahen Freunden. Über Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Arnold Schönberg und andere konnte er lange erzählen. Doch ein Mensch mußte nicht „groß und berühmt“ sein, um sein Interesse an dessen Leben zu erwecken. Die Geschichten von einfachen Leuten gehören zu seinen schönsten ... Plötzlich überzog ein Erinnerungslächeln sein Gesicht. Weit hinter seinen dicken Brillengläsern flackerte in seinen Augen diese eigentümliche Mischung von Zartheit und leichter Ironie auf, die bei ihm stets eine hübsche Geschichte ankündigte. Er begann zu erzählen. „Einmal fuhr ich in den Sommerferien in eines der kleinen Tiroler Dörfer. Der Ort lag hoch und abgesondert auf einem Berg. Sehr selten kamen Sommerfrischler aus Wien dahin. Ich war zu Beginn des Sommers gekommen, vor der Saison, und hatte ein kleines Zimmer bei einer Bäuerin gemietet, die allein wohnte. Ihr Haus stand ganz oben an der steilen Gasse, der einzigen des Dorfes, ausgesetzt den Winden. Im Winter lag der Schnee manchmal hoch bis zum Dach. Und da sie ganz von der Gnade des Wetters abhing, hatte sie einen Spürsinn dafür entwickelt; sie wußte, was die Richtung der fahrenden Wolken besagte, und was es bedeutete, woher der Wind weht. Sie hatte das Gefühl für Regen und Gewitter im voraus, wenn die noch fern waren. Ihre Augenbrauen standen immer in einem steilen Dreieck nach oben gezogen; ihr Blick war ja stets gegen den Himmel gerichtet. Wie eine gotische Wölbung waren diese Brauen und über ihnen viele kleine Fältchen auf der Stirn, bis zu ihrem weißen Haar. Auch sie alles kleine Dreiecke. All die Tage über schwieg sie, sagte bloß das Notwendisgste. Dennoch konnte man wissen, daß sie ein diffiziles Seelenleben besaß, wenn man manchmal ein Wort auffing, das ihr im Gespräch mit der Kuh entfuhr. Auch ich schwieg mit ihr, und deshalb behandelte sie mich mit Freundlichkeit. Einst konnte ich in der Nacht nicht schlafen. Ich hörte ein Geräusch im Haus und die Schritte der alten Bäuerin. Ich wollte einschlafen und vermochte es nicht. So stand ich eben noch im Dunkel auf, vor Sonnenaufgang. Ich kleidete mich an und wollte hinaus, um ein wenig herumzustreifen. Als ich vors Haus trat, tat sich ein Bild vor den Augen auf: die einzige Gasse des Dorfes war ein langer Anstieg, Häuser zu beiden Seiten, und an jedem Hauseingang stand jemand mit einer brennenden Kerze in der geballten Hand. Die ganze Steigung entlang brannten solche Kerzen. Ich wußte schon, was das zu bedeuten habe: in dem Dorf gab es keinen Friedhof. und starb da irgendwer, wurde sein Sarg in das nächste Städtchen getragen und alle Dorfbewohner standen vor ihren Häusern mit Kerzen in der Hand bis der Sarg vorüberzog und gaben so ihr Totengeleite. Auch meine Wirtin stand am Haustor, die Kerze in der Hand und ich stand neben ihr und schwieg. Als sie mich sah, seufzte sie und sagte: „So schwer!“ Der Bericht dieser Episode, die von Sonnes Kontakt mit bedeutenden Persönlichkeiten des Jahrhunderts eingeleitet wird, läßt an das Iyrische Werk der Dichterin selbst denken, in dem zwei Stilebenen sich ineinander verweben, die man einst „hoch“ und „niedrig“ genannt hat, wovon vielleicht auch Gershom Scholem in seinem Nekrolog auf die Dichterin Zeugnis ablegt, wenn er von der stark persönlichen Mischung von „Scham und Stolz“ in ihrem Charakter spricht. So z.B. in dem Gedicht Der Engel, das Ludwig Strauß wunderbar übersetzt hat: Sein Kleid ist zu grob, sein Gesicht zu unsäglich arm, um zu schauen Die Majestät, die in ewiger Glorie strahlt. Kindlich wie ein Harmonikalied auf das flache Blauen Des Himmels gemalt. Und darum vielleicht kann er wohnen im Kreise der göttlichen Dinge, Ohne Staunen dem Wunder gesellt, Und unschuldig weht das verwischte Gold seiner schweren Schwinge Wie ein Schild überm Reich einer unbekannten Welt. Und es kommen die Jahre mit schamhafter Vorsicht vorübergezogen Wie schwangere Frauen vor seinem Gesicht. Und ihm zu Häuptern flackert der Regenbogen, Und ihm zu Füßen verlöscht der Kerzen Licht. Lea Goldberg, sie zählt zu den bedeutendsten israelischen DichterInnen, ist 1911 in Königsberg geboren, aber in Kaunas (Kovno) aufgewachsen, lebte allerdings schon als Drei- bis Vierjährige zur Zeit des Ersten Weltkrieges bis zu dessen Ende gemeinsam mit Mutter und Vater — Geschwister hatte sie keine- in Rußland im Bezirk Saratov. Die Rückkehr nach Litauen war verhängnisvoll, da ihr Vater an der Grenze, als Spion verdächtigt, tagelang schikaniert wurde, mit ständiger Drohung der Todesstrafe. Dies führte zu seinem Nervenzusammenbruch, wovon er sich zeitlebens nicht erholte. Zwanzig Jahre später, schon drei Jahre in Israel, schreibt Lea Goldberg in ihren Erinnerungen: 45