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Ich erinnere mich gut. Es war Ende September oder Anfang Oktober 1919. Die Tage waren sehr kalt, die Felder sehr kahl. Es wehte ein frecher beißender Wind. In der Ferne hörte man Schüsse. Irgendwo an der Grenze zwischen Rußland und Litauen. Der Großteil unserer Gruppe hatte schon die Grenze überquert. Wir waren zurückgeblieben. Vater war in Haft und täglich wurde ihm mitgeteilt, daß er hingerichtet würde. Er hatte gelb-rote Schuhe, und die litauische Grenzpolizei behauptete, solche Schuhe seien ein sicheres Zeichen für die Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei. Er wurde verhaftet und in einen großen leeren Stall geworfen zusammen mit noch zwei drei hilflosen und hungrigen Menschen. Manchmal ließ man mich in den Stall. Ich verstand schon recht gut das Grauen da: ich war schon acht Jahre alt. Noch in ihrem weitgehend autobiographischen Roman Und es ist das Licht, 1946 erschienen, finden wir Spuren dieses Ereignisses. Ist es vielleicht die Bedrohung durch die Geisteskrankheit des Vaters, die die Dichterin zu ihrem klaren, nüchternen, wohlakzentuierten Stil führte, von dem selbst die zitierte Stelle aus den Erinnerungen Zeugnis ablegt, ist es ihre angeborene Art, die sie als Elfjährige in ihr Tagebuch über eine Klassenkameradin notieren ließ: „Auch sie schreibt Gedichte. Sie sind sehr schön, aber sie haben etwas Falsches.“ Vor solchem „Falschen“ hütete sich die Dichterin, die schon als Kind Gedichte machte, ihr Leben lang. Noch in ihrem Nachlaß finden sich Verse wie: Nur eine Stufe. Du fällst nicht tief. Harter Boden ohne Gnade des Abgrunds. An einem Vers wie diesem „ohne Gnade des Abgrunds“ läßt sich die Qualität der Dichterin ablesen, an „Du fällst nicht tief“ ihre kompromißlose Aufrichtigkeit, die uns auch der Fünfzehnjährigen glauben läßt, die ihrer Freundin schreibt — sie hatte schon Turgenjew, Tschechow, Gogol und Tolstoj, Dostojewskij und Dickens, Hugo und Austin, Puschkin und Plato, Heine und Nietzsche gelesen: Heine las ich fast das ganze Buch, Nietzsche nur 36 Seiten. [Es handelt sich um für zwei Tage geliehene Bücher.] Du willst mich fragen, ob ich etwas verstanden habe, stimmt 5? ‚Etwas ist eine komische Frage. Natürlich habe ich ‚etwas ’ verstanden, weil jeder, der ein Buch liest, etwas davon versteht. Ich bin überzeugt, daß ich viel nicht so verstanden habe, wie es Nietzsche sich dachte. Vielleicht habe ich es mir auf meine Art erklärt, und nicht wie der Verfasser. Das ist auch ‚etwas. Und außerdem meine ich, daß ich keine zu groben Fehler gemacht habe, denn über den Übermenschen las ich schon öfters. Ja, und die deutsche Sprache ist sehr leicht. Lea Goldberg war nicht nur Lyrikerin, wenn sie es auch vor allem war und zu dem Dreigestirn der israelischen Moderne: Abraham Schlonski, Nathan Alterman und eben Lea Goldberg zählte (und heute mehr Aktualität besitzt als ihre Kollegen, die damals höher geschätzt wurden). Sie schrieb auch einen Roman, einige Erzählungen und drei Dramen, von denen Die Schloßherrin regen Widerhall fand. Sie war auch diejenige ihrer Generation, die, außer in der russischen, Wurzeln in der deutschen Dichtung hatte. Sie war auch die einzige mit akademischem Titel, da sie nach zwei Jahren an der litauischen Uni neunzehnjährig nach Berlin fuhr und nach einem Jahr nach 46 Bonn zog, um bei Professor Paul Kahle semitische Sprachen zu studieren und als Zweiundzwanzigjährige bei ihm ihren Doktor über „Die samaritische Übersetzung. Untersuchung der vorhandenen Quellen‘ machte. In Bonn begegnete sie den ersten Zeichen der Nazi-Herrschaft, und von dort aus fuhr sie nach Freiburg und hörte jenen Vortrag von Carl Gustav Jung, in dem er die Heilsgestalt des Führers pries, was sie ihm zeitlebens nicht vergaß. Ich erinnere mich, wie sie die Beschreibung seiner eigenen Träume als „viel zu schön“ verwarf. Lea Goldberg schreibt: Im Mai 1933 verschwanden von den Bücherregalen der Bibliothek russische Literatur und Werke jüdischer und linksstehender Autoren ... Während der Bücherverbrennung war ich nicht auf dem Stadtplatz, wo die Scheiterhaufen brannten. Ich bin überzeugt, daß kein einziger Jude anwesend war. Mir fehlte die Neugier, mich an einen Ort zu begeben, wo haufenweise Nazis sich zusammenrotteten. Einige Studenten in NaziUniform waren sicherlich dabei. Ich stellte keine Fragen und auch sie blickten mir nachher nicht in die Augen. Noch besaßen sie etwas wie menschliches Gefühl, wenigstens Verlegenheit. Doch die Frau meines Professors [Kahle], eine der weni- gen, die bis heute ihren Widerstand gegen den Faschismus bewiesen haben, kam ins Seminar und sagte zu mir: „Ich war dort“, und sie wischte sich dabei die Tränen aus den Augen, „ich beneide die Juden: sie müssen sich wenigstens ihres Volkes nicht schämen.“ Einer der Studenten in NaziUniform zischte ihr nach: ,, Hysterisches Weib.“ Nachdem sie Bonn verlassen hatte, unterrichtete Lea Goldberg ein Jahr lang in der litauischen Provinz und wanderte 1935 ins damalige Palästina ein, wo sie ihren Lebensunterhalt als Lehrerin an zwei verschiedenen Schulen verdiente (nach ihrer Rückkehr aus Rußland hatte sie das Hebräische Gymnasium in Kovno besucht und schrieb hebräische Gedichte noch vor ihrer Einwanderung). Später setzte sie ihre Tätigkeit als Journalistin fort, auch als sie schon Lektorin im Sifriat Poalim Verlag war und vor allem das Ressort für Kinderbücher betreute. (Sie war unter anderem eine der beliebtesten Kinder- und JugendbuchautorInnen.) Regelmäßig veröffentlichte sie in der Wochenendausgabe ihres Blattes das so genannte Literarische Tagebuch, in dem sie die israelische Leserschaft mit ihren Leseerfahrungen russischer aber vor allem auch westlicher Literatur bekanntmachte. Neben ihren zahlreichen Vorträgen im ganzen Land und ihren Übersetzungen (sie übersetzte Lyrik aus dem Russischen, Deutschen, Englischen, Französischen und Italienischen, vor allem Petrarca, dem sie auch einen langen Essay widmete. Sie übersetzte Prosa und Dramen von Tschechow, Tolstoj, Gorki, Shakespeare, Brecht, der Droste, Heinrich Mann, Ibsen, Strindberg und anderen) — beeinflußte ihr Feuilleton die Kultursphäre einer ganzen Bevölkerungsschicht. Sie war in der zeitgenössischen israelischen Moderne die am meisten westeuropäisch orientierte Autorin (wiewohl sie ihr Herkommen aus der russischen Literatur nie in Frage stellte). Sie schreibt 1945: Was war Europa für uns? Dante und Giotto und Michelangelo, Goethe und Flaubert, und Mozart und Stendhal, Verlaine und Rilke und Rodin, Cezanne und Strawinsky und James Joyce... Namen, Namen, unterschiedlich an Bedeutung und Rang, sich einander widersprechend, und man könnte diesen noch viele hinzufügen: Plato und Spinoza und Bergson. War das die Hauptsache? Brauchte man sie alle zu lesen, zu sehen, zu hören, jeden einzelnen zu kennen? Völlig zu verstehen und zu werten? Sie bildeten ein ‚Ganzes, sie schufen eine seelische