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ne Ergebnis war, daß die Kinder von den Spaziergängen mit ihrem Vater vollbeladen mit Versen von Goethe, Schiller und Heine nach Hause kamen. Als die Kinder größer wurden und von Emil ernste, zum Beispiel technische oder überhaupt allgemeine Erklärungen erwarteten, mußte er, um genau zu sein und um nicht sein Deutsch voller Sprachfehler zu gebrauchen, natürlich Rumänisch reden, was ja sowieso im Hause gebräuchlich war. In Israel wurde dieses Problem durch die energische und schnelle Eroberung des Hebräischen gelöst. Zuerst gelang sie Emil und durch ihn auch den Kindern. Mir aber ging es darum, daß die Kinder sich von der deutschen Sprache und vom kulturellen Gut, das ihnen gerade durch sie zugänglich war, nicht entfernten. Und da ich in Bukarest die deutschen Schulbücher für sie erworben hatte, war ich hartnäckig darauf bedacht, das gesamte Schulprogramm der deutschen Schule mit ihnen gewissenhaft durchzumachen. Wenn ich heute, da ich durch das Tippen meiner damaligen Aufzeichnungen alles wieder an die Oberfläche bringe, die Stundenpläne anschaue, die wir alle vier zusammen aufstellten und unterschrieben, greift es mir ans Herz: Aufgaben für mich täglich — auch an Feiertagen und in den Ferien schon gar, Aufgaben für die Schule (sie waren beide fleißige Schüler), intensives Iwritlernen, Rechnen anfangs mit mir, dann mit Emil, Bücherlesen, Nacherzählungen, Briefeschreiben und was noch allmählich dazu kam. Trotzdem blieb ihnen Zeit für Spiel, Sport, Musik und interessante Tischgespräche, und das tröstet mich. In jener ersten Zeit sagte ein Bekannter aus Bukarest zu Emil und zu mir: „Wie gut, daß ihr mit eueren Söhnen rumänisch und deutsch sprechen könnt. Ich rate euch, dies weiter zu pflegen. Ich habe keine sprachliche Gemeinsamkeit mit meinen beiden Söhnen, die hier geboren sind und nur Iwrit sprechen, indessen mein Iwrit noch lange nicht für ein inhaltsreiches Gespräch reicht.“ Der Mann konnte nicht wissen, daß es Emil viel daran lag, aus dem /writ die führende Sprache in unserem Heim zu machen. Mich aber bestärkte (wenn es eines Bestärkens überhaupt bedurfte) dieser Rat in meinem Ringen zugunsten der deutschen Sprache. Als wir anfingen, mit den „Naturfreunden“ Ausflüge zu machen, an denen zumeist deutsche Juden teilnahmen, sagten sie mir, sie hätten es nach dem Krieg vermieden, mit ihren Kindern deutsch zu sprechen, die Kinder selber hätten das nicht gewünscht, und es wundere sie, daß meine Kinder nicht nur mit mir, sondern auch miteinander deutsch sprächen. Ich erklärte unseren Ausflugspartnern, daß meine Kinder genau wüßten, daß viele deutsche Menschen unserem Volke Schreckliches angetan hätten, sie wüßten aber ebenso gut, daß die Sprache keine Schuld daran trage. Dorothea Sella wurde 1919 in Czernowitz als Dorothea Sperber geboren. 1919 wurde Rumänisch zur Landessprache, doch bei ihr zu Hause wurde nur Deutsch gesprochen und gelesen. Sie schrieb darüber in einer autobiographischen Skizze: „Die eindringliche und verherrlichte Weise, in der mir die älteren Familienmitglieder im Verlauf der Jahre ihr Leben in der österreichischen Vorkriegszeit darstellten, vor allem ihre Liebe zur deutschen Sprache, Dichtung und Kultur drangen tief in meine Seele und prägten mich fürs ganze Leben.“ Ihre Eltern litten unter dem rumänischen Nationalismus und Antisemitismus und wollten deshalb so schnell wie möglich nach Palästina auswandern. Ihre Eltern schrieben Dorothea Sella 1925 in die hebräische Elementarschule „Ssafa Iwrija“ ein; danach besuchte sie die achtklassige Mittelschule, in der die Unterrichtssprache Rumänisch war. Die erste Pflichtfremdsprache war Französisch, ab der dritten Klasse wurde Latein gelehrt, ab der vierten Griechisch. Über die Pflege der deutschen Sprache schrieb Sella: „Da in unserer Klasse die Muttersprache aller Schülerinnen Deutsch war, befaßten wir uns nicht mit der im Lehrplan vorgeschriebenen elementaren Sprachlehre, sondern, in allen vier Jahren der Oberstufe, mit der Geschichte der deutschen Literatur. Auf diese Weise vertiefte sich die Liebe zur deutschen Sprache und Kultur.“ Mit der Ausnahme der Deutschstunden wurde es den jüdischen Schülern jedoch bei Strafe verboten, in der Öffentlichkeit oder im Schulgebäude deutsch zu sprechen. Nach der Matura im Juli 1937 immatrikulierte sich Sella an der Philologischen Fakultät der Czernowitzer Universität. Ihre Hauptfächer waren Philologie (Romanistik), Französisch und Philosophie, ihre Nebenfächer Englisch und Literaturgeschichte. Nach dem Abschluß des zweiten Studienjahres erhielt sie ein Stipendium für einen Sommerkurs in Frankreich, den sie wegen dem Ausbruch des Weltkriegs unterbrechen mußte. Das dritte Studienjahr 1939/40 konnte sie noch ungestört absolvieren. Am 28. Juni 1940 wurde Czernowitz von der Roten Armee besetzte und damit zur ukrainischen Stadt Tscherniwtzy. Im September 1940 wurde Sella in die Philologische Fakultät der nun schon Ukrainischen Universität mit der Unterrichtssprache Ukrainisch aufgenommen, mußte aber das dritte Jahr wiederholen, da wegen der zu geringen Studentenzahl kein viertes eröffnet wurde. (1939/40 und 1940/41 war Paul Celan ihr Studienkamerad, auch in der „Ssafa Iwrija“ war er ihr Mitschüler.) Am 1. Juli 1941, floh Sella, knapp vor der Geburt ihres ersten Kindes, mit ihrem Mann zusammen mit einer Gruppe Czemowitzer Studenten und Professoren nach Osten. Wenige Tage später wurde die Nordbukowina von rumänischen und deutschen Truppen erobert und 35.000 Czernowitzer Juden wurden nach Transnistrien deportiert, darunter auch Sellas Vater, der dabei ums Leben kam. In Staropol im Norden des Kaukasus wurde die Czernowitzer Studentengruppe ein Mitglied des Pädagogischen Instituts für Fremdsprache. Da der Studiengang nur auf drei Jahre festgesetzt war, mußte Sella im Schuljahr 1941/1942 zum dritten Mal das dritte Studienjahr absolvieren, aber nur dieses Studium konnte sie, trotz dem schwer erträglichen Arbeitsdienst, am Leben erhalten. Am 3. August 1942, dem Tag der Besetzung Stawropols durch deutsche Panzer, wurde ihr Mann, der kurz vorher einberufen worden war, getötet und Sella floh (ihr Töchterchen war im Jänner gestorben), erneut schwanger, immer weiter nach Süden. In Tbilissi (Tiflis), der Hauptstadt Georgiens, bewilligte ihr der Rektor der Staatlichen Universität (Unterrichtssprache Grusinisch) die Fortsetzung des Studiums, jedoch nur im Rahmen des dritten Jahres, da ihr für das vierte Jahr zu viele Prüfungen fehlten. So mußte sie im Unterrichtsjahr 1942/43, ihrem sechsten Hochschuljahr, das dritte Jahr zum vierten Mal durchmachen. Neben ihrem Hauptfach Französisch studierte sie auch noch viele andere Fächer. Zu gleicher Zeit kämpfte sie verzweifelt um das Leben ihres kleinen Sohnes. Da es ihr an allem fehlte, was zur Pflege und Ernährung eines Kindes gehört, starb er mit acht Monaten im Herbst 1943. In den folgenden zwei Jahren — 1943/44 und 1944/45 — stieg Sella ordnungsgemäß ins vierte und danach auch ins fünfte Jahr auf. Im April 1945, als sie nur noch zwei Monate vom Staatsexamen und von der darauffolgenden Übernahme eines 59