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tionalsozialismus kann er nach einer glänzenden Karriere als Literaturwissenschaftler in Deutschland das Zentralinstitut für Theaterwissenschaft in Wien aufbauen, wo die Dramaturgen, Zensoren und Theaterkritiker des NS-Regimes ausgebildet werden; in den fünfziger Jahren kehrt er auf diesen Lehrstuhl zurück, um die Dramaturgen und Theaterkritiker des Postfaschismus zu instruieren und besetzt abermals zentrale Positionen im Ministerium und innerhalb der ganzen von der ÖVP dominierten kulturellen Sphäre. In Kindermanns festlicher Wissenschaft gibt es allerdings nicht einmal eine „Nacht über Österreich“, auf die zurückzublicken wäre; in ihrem Gesichtskreis ist allezeit Tag und es gilt die Wiederkehr des Immergleichen, ob es nun „deutscher Geist“ oder „österreichischer Mensch“, „faustisches Ringen“ oder „barocke Theatralität“, „musikalische Grundbegabung“ oder „ewige Theaterleidenschaft“ genannt wird. Alles ist „angeboren“, und die Kunst als „volksformende Kraft“ hat die Aufgabe, es zum Ausdruck zu bringen. Das Theater bleibt die rassische Anstalt, die es im Dritten Reich war, die Rasse ist bloß barockisiert. Bei Kindermann findet sich in allen Facetten ausgemalt, worauf es im postfaschistischen Theater ankam; Evelyn Deutsch-Schreiner hat dafür den eindringlichen Satz geprägt: es sei „das Theater einer Gesellschaft, die keine schlimmen Zeiten kennt und keine bösen Erinnerungen hat, keine Verbrechen zu bereuen und keine Toten zu betrauern.“ Das letzte Kapitel ist eine Art Exkurs. Es handelt von der österreichischen Avantgarde als dem Antitheater des Wiederaufbaus — und macht in bestimmter Weise auf den Standort der „Erzählerin“ dieser Theatergeschichte aufmerksam. Im Grunde betrachtet sie die Phänomene der Nachkriegszeit als nahezu vollständig Überwundenes oder für immer Untergegangenes - sei's die penetrante Österreich-Ideologie oder das autokratische Konzept des Erziehungstheaters, die perfide Abwehr des Erinnerns der NS-Vergangenheit oder der verstaubte Kanon der Hochkultur. Was davon übrig blieb, seien bloße „Nachwirkungen“. Die Studie vermittelt darin einen eigenartigen Optimismus: es liegt ihr eher fern, die Geschichte in dem Bewußtsein zu analysieren, daß jenes Untergegangene — in welcher Form auch immer — wiederzukehren droht, weil seine Voraussetzungen weiterbestehen. Damit hängt nun zusammen, daß Wiener Gruppe und Wiener Aktionismus nicht als Teil des Ganzen, Pendant zu sozialdemokratischem Umzug und katholischer Spielschar, Grillparzer-Burgtheater-Eröffnung und Brecht-,‚Russentheater“-Schließung begriffen werden. Sie firmieren vielmehr als eine Art außerirdischer Erscheinung des Wiederaufbaus — gleichsam Enklaven der Gegenwart, die ins absolut Vergangene eingelassen sind. Und bei diesem Wunder der Avantgarde inmitten des Wirtschaftswunders der Restauration wird auch nicht kritisch differenziert: 84 Konrad Bayer und Hermann Nitsch nehmen im Jenseits der österreichischen Misere die gleiche Bedeutung an. Doch wenn die Autorin zuletzt das Orgienmysterientheater mit dem Begriff „barocke Theatralität“ doch noch irgendwie in eine Tradition einfügen möchte, dann kann einem schon die Frage in den Sinn kommen, die in dieser Theatergeschichte des linearen Fortschritts keinen Platz hat: ob in Prinzendorf womöglich die Kategorien eines Kindermann Auferstehung feiern. Gerhard Scheit Evelyn Deutsch-Schreiner: Theater im , Wiederaufbau’. Zur Kulturpolitik im österreichischen Parteien- und Verbändestaat. Wien: Sonderzahl 2001. 412 S. Wo ist die psychoanalytischpädagogische Bewegung? Roland Kaufhold hat seine Arbeiten zur Psychoanalytischen Pädagogik in einem neuen Buch zusammengefaßt und systematisiert. Er stellt drei „Väter“ der gegenwärtigen psychoanalytischen Pädagogik vor, führt instruktiv und einfühlend in Werk und Leben von Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein und Ernst Federn ein. Wer sich über die Bedeutung dieser drei Persönlichkeiten eingehender informieren will, dem wird dieses Buch eine gute Hilfe sein. Zum anderen wird hier versucht, Genese und Entwicklung einer psychoanalytisch-pädagogischen Bewegung zu skizzieren. Ausgangspunkt ist, daß die Psychoanalytische Pädagogik in den 1920er und 1930er Jahren ihre Blütezeit in Europa erlebt hat. Daß die Psychoanalyse den Erziehern helfen könnte, wenn das Kind in ihnen selbst vertrauter wäre, sie also einen analytischen Prozeß durchlaufen hätten, aber die Psychoanalyse Erziehung nicht ersetzt, sondern ihr nur beistehen kann, war den Gründern der Psychoanalyse bewußt. Siegfried Bernfeld wollte der Psychologie des Erziehers in der Pädagogik größere Bedeutung geben. In der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gab es in den 1930er Jahren einen erstaunlichen Zulauf von Pädagogen, für die ein eigener Ausbildungsgang, die sogenannte „Pädagogenanalyse“, eingeführt wurde. Viele der später berühmten „LaienanalytikerInnen“, also der Psychoanalytiker ohne Medizinstudium, waren zuerst Lehrer oder Erzieher. Diese vitale Beziehung zwischen Psychoanalyse und Pädagogik ist vom NS-Regime im deutschsprachigen Raum zerstört worden. Die psychoanalytischen Vereinigungen wurden gleichgeschaltet, die jüdischen PsychoanalytikerInnen wurden ermordet oder vertrieben, und die Pädagogik wurde von psychoanalytischen und anderen Ansätzen „gesäubert“. Die Psychoanalyse wurde in der anglosächsischen Emigration in bisher ungewohntem Ausmaß der Medizin unterworfen. Kaufhold zeigt, daß viele „LaienanalytikerInnen“, die aus dem pädagogischen Feld gekommen waren, sich in Großbritannien und den USA in der Kinderanalyse professionalisierten. Ob diese Entwicklung zur Kinderanalyse auch dem dort vorherrschenden „Medicozentrismus“ (Paul Parin) geschuldet war, wäre zu diskutieren. In den biographischen Studien über die drei Pioniere der zweiten Phase der Psychoanalytischen Pädagogik von 1945 bis ca. 1965 zeigt Kaufhold, daß ihre Arbeit an ihrer eigenen Traumatisierung durch den nationalsozialistischen Terror und die Exilerfahrung einen Weg zum Verständnis von Schwerstgestörten ermöglichte. Diese zweite Phase kann als Phase der Erprobung von therapeutischen Einrichtungen für psychotische Kinder und Jugendliche definiert werden. Bettelheim und Ekstein haben in der Orthogenic School und der Reiss-Davis Klinik wertvolle milieutherapeutische Erfahrungen sammeln, analysieren und weitergeben können, aber beide mußten ein schmerzliches Ende ihrer Projekte erleben. Federn wollte die Idee der psychoanalytisch orientierten Sozialarbeit verbreiten, was an einigen, aber sicher zu wenigen Orten gelungen ist. Aber: Ist diese zweite Phase der Psychoanalytischen Pädagogik ihre letzte Phase? Auffallend ist, daß Kaufhold sein Buch mit berührenden und angemessenen Kapiteln über Bettelheims Suizid und zur Psychologie der Extremsituation abschließt. War der Einsatz der drei Pioniere also „nur“ Reparationsversuch ihrer traumatischen Erfahrung, der mit ihrem Tod endet, oder wird ihr Erbe fruchtbaren kulturellen Boden finden können? Was ist mit den Massen ihrer Schülerinnen und Schüler geschehen, sind ihre Erfahrungen in neue Arbeitszusammenhänge eingegangen oder sind auch sie dem Malstrom der narzißtischen Individualisierung erlegen? Aber das könnte Thema eines neuen Buches sein. Bernhard Kuschey Roland Kaufhold: Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytischpädagogische Bewegung. Gießen: Psychosozial-Verlag 2001. 313 S. Euro 25,51 Die Anthologie zum Literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ 2001 Mit diesem neuen Band setzt der Verein Exil sein vor fünf Jahren begonnenes Projekt fort. Durch die Teilnahme am Wettbewerb, die Preisverleihung und die Veröffentlichung der Gewinnertexte werden immer wieder neue AutorInnen entdeckt. Eine erfreuliche Entwicklung, die dem Leser wertvolle Begegnungen ermöglicht und Einblicke in andere Kulturen gibt, die ihm ohne solche literarische Arbeiten vielleicht für immer verschlossen blieben.