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nenden Haltung liefen die Schweizer Jüdinnen und Juden Gefahr, Staatsbürger zweiter Klasse zu werden. Mit der Unterzeichnung des Abkommens über die Kennzeichnung der Pässe deutscher Juden durch den „J“-Stempel' von 1938 zeigten die Bundesbehörden ihre grundsätzliche Bereitschaft, elementarste Grundrechte auszusetzen, insofern als das Abkommen die prinzipielle Möglichkeit einräumte, auch die Pässe von Schweizer Juden mit einem „J“ zu brandmarken (354-355). Die Schweizer Diplomatie ihrerseits passte die völkerrechtlichen Konzeptionen den politischen und wirtschaftlichen Interessen an. In diesem Sinne favorisierten die Behörden zur Zeit des Hitlerregimes die sogenannte „Gleichbehandlungstheorie“, wonach diskriminierende Haltungen gegenüber ausländischen resp. Schweizer Juden im nationalsozialistischen Machtbereich rechtlich kaum anfechtbar waren, da Deutschland mit den eigenen jüdischen Staatsangehörigen auf gleiche Weise verfahre. Nach dem Zweiten Weltkrieg wechselte die diplomatische Praxis wiederum zum Konzept des „völkerrechtlichen Mindeststandard“, um die Eigentumsverhältnisse von Auslandschweizern in sozialistischen Ländern zu schützen. (353-354) 1931 legten die Behörden die bis 1944 gültige Unterscheidung zwischen politischen und nicht-politischen Flüchtlingen fest. Mit ersteren waren Menschen gemeint, welche wegen ihrer politischen Tätigkeit in ihrer Heimat an Leib und Leben gefährdet waren. Asylsuchende, die wegen ihrer „Rasse“, Religion oder Herkunft - z.B. Juden, Angehörige osteuropäischer Staaten sowie Roma und Sinti — in der Schweiz Zuflucht suchten, gehörten per definitionem nicht in diese Kategorie und waren daher keine (politischen) Flüchtlinge. Ihre Aufnahme wurde verweigert — oft wurden sie zurück in die Hände ihrer Verfolger getrieben. (411-412) Im Urteil der Kommission versagte die Schweiz mit der Schliessung ihrer Grenze und den diskriminierenden Massnahmen, als es 1942 und 1943 darum ging, den verfolgten Jüdinnen und Juden grosszügig Asyl zu gewähren. Mit diesem Verhalten hätten die Behörden dazu beigetragen, „dass die Nationalsozialisten ihre Ziele erreichen konnten.“ (172). Aussenwirtschaftliche Verflechtung Die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts beruhten auf der Mobilisierung aller zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen und können daher als „Produktionskriege“ charakterisiert werden. Für die Schweiz war die Dimension des Wirtschaftskrieges von entscheidender Bedeutung. (94) Im Kontext der aussenwirtschaftlichen Verflechtung sorgte die vom amerikanischen Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat aufgeworfene Frage, ob die Schweiz wegen strategischer Importe, die aus dem Erlös von Goldverkäufen der Deutschen Reichsbank an die Schweizerische Nationalbank bezahlt worden waren, den Krieg verlängert habe, für grosses Aufsehen. '' Tatsächlich war die Schweiz während des Zweiten Weltkrieges der wichtigste Umschlagplatz für Gold, das aus dem nationalsozialistischen Machtbereich stammte. Die Deutsche Reichsbank wickelte fast vier Fünftel all ihrer Goldlieferungen nach dem Ausland über die Schweiz ab. Besonders problematisch waren die Goldtransaktionen nach dem Ausbruch des Krieges, als das „Dritte Reich“ Raubgold für die Devisenbeschaffung verwendete. (272) Die UEK formulierte ihre Anwort auf die Kriegsverlängerungsthese vorsichtig. Sie wies schlicht darauf hin, dass diese „nicht erhärtet werden“ konnte. (543-544) Die wirtschaftliche Kollaboration der Schweizer Banken umfasste neben den Goldgeschäften u.a. auch das Kreditwesen. Schweizer Banken gewährten während dem Krieg verschiedenen deutschen Unternehmen namhafte Kredite. (273) Der Absatz nach Italien und Deutschland wurde zudem in Form einer staatlichen Bevorschussung durch Steuergelder gefördert (Clearingkredite). Von hoher kriegswirtschaftlicher Bedeutung war die Alpentransversale, die den Verkehr zwischen den Achsenpartnern Deutschland und Italien regelte. Die schweizerischen Behörden verstanden den Transitverkehr zum einen als reines Dienstleistungsgeschäft; andererseits garantierte er die Zufuhr von wichtigen Gütern — insbesondere Kohle. Hier stand besonders die Frage, ob Deportationszüge auf ihrer Fahrt in die Vernichtungslager die Schweiz durchquert haben, im Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Nach der akribischen Rekonstruktion der einzelnen Konvois kam die UEK zu folgendem Schluss: „Von den 43 Konvois, die von Italien kamen, fuhren 39 über den Brenner oder via Tarvisio. Ein Zug fuhr via Ventimiglia-Nizza, und was die drei anderen Züge betrifft, gibt es keinen Hinweis, dass sie durch die Schweiz gefahren wären.“ (231) Dieses Beispiel verdeutlicht die Spannung zwischen Aufwand und Ertrag historischen Arbeitens. Die Kommission hat in vielen Bereichen wertvolle Detailarbeit geleistet, die ein einzelner Forscher nur schwerlich erbringen könnte. Die Geschäftspraxis der Schweizer Wirtschaft wurde von einer Banalität des Eigeninteresses dominiert. Sie führte rasch zu einer Anpassung an die neuen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten im „Dritten Reich“ (540). Hierzu zwei frappante Beispiele: Die Zweigstelle des Schweizer Chemieunternehmens Geigy AG in Grenzach/D erhielt bereits 1934 die offizielle Berechtigung zur Lieferung von parteiamtlichen Stoffen und Gewebe. Ihre Farbstoffe durften ferner für die „Symbole der nationalen Bewegung“ gebraucht werden. (337) Dass sich die Produktionsstätte zum Erlangen dieses Gütesiegels als „judenrein“ zu deklarieren hatte, versteht sich von selbst. Das Geigy-Werk blieb bis Kriegsbeginn neben der IG Farben die einzige offiziell anerkannte Lieferantin der NSDAP. Der Schweizer Schuhfabrikant und Solothurner Ständerat Iwan Bally warb nach dem Anschluss Österreichs mit folgendem Inserat um Kunden für sein Familienunternehmen: „Im Verwaltungsrat und in der Direktion sind die nicht arischen Herren zurückgetreten, die verbleibenden Mitglieder des Verwaltungsrates sind durchwegs arischer Abstammung. [...] Die Familie, der Verwaltungsrat und die Direktion sind ausschliesslich arisch.““ (341-342). „Interventionistischer Bilateralismus“ und „liberaler Internationalismus“ prägten die Aussenhandelspolitik und die Kriegswirtschaft der Schweiz, die auf einem stabilitätsorientierten Korporativismus beruhte. (60) Die politischen Behörden waren passiv und wirkten nur koordinierend auf die Wirtschaft ein. Die Funktion einer Kontrollinstanz übernahmen sie nicht. Verhandlungen mit den Kriegsmächten überliessen sie den hohem Verwaltungsbeamten und den Wirtschaftsverbänden. Das Ziel der Politik war Handelsförderung und nicht volkswirtschaftliche Selbstgenügsamkeit (60-61). Die Schweiz wollte in den Handel kommen” resp. im Handel bleiben. Es war Nationalrat Walter Muschg, der den ,,moralischen Geschichtspunkt“ der deutschfreundlichen Wirtschaftspolitik