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des Bundesrates erkannte. In der Sitzung des Nationalrates vom 29. September 1941 sprach er sein Unbehagen offen aus: „Auch unsere eigenen Nachkommen werden dereinst nicht zuerst darnach fragen, ob wir in diesen Jahren gehungert und gefroren haben, sondern ob wir die Kraft aufbrachten, trotz Hunger und Not dem schweizerischen Staat diejenige Geltung zu erhalten, deren er würdig ist und die er braucht.“ (201) Der verantwortliche Bundesrat, Wirtschaftsminister Walther Stampfli, zeigte keinerlei Verständnis für die Argumentation Muschgs. Die Meinung der Nachkommen interessiere ihn gar nicht. Seine Sorge gelte vielmehr den Mitbürgern und diese seien nicht bereit, „in einem Anflug von idealem Heroismus auf das Notwendigste zu verzichten“. (Ebd.) Nach den Wirren des Krieges Als die Frage nach einer allfälligen Reparation nach dem Krieg aufkam, übten sich die Schweizer Behörden weiterhin in Zurückhaltung. Im Washingtoner-Abkommen von 1945, durch welches die alliierten Rückerstattungsforderungen für das Raubgold abgegolten wurden", sah die politische Spitze weder Restitutions- noch als Reparationsleistungen, sondern einen „freiwilligen“ Beitrag zum Wiederaufbau Europas. (457) Die Rückerstattung der nachrichtenlosen Konten nahm teilweise groteske Züge an. Durch die Kombination von Nichtverzinsung und Gebührenbelastung schrumpfte das Guthaben auf kleinen Konten rasch. Mit den Jahren konnten diese klammheimlich kassiert werden. Die Dokumente wurden nach der gesetzlichen Frist von zehn Jahren legal vernichtet. (466) Bei der Auszahlung an überlebende Verwandte verlangten die Banken gar einen Totenschein des im Konzentrationslager ermordeten Kontoinhabers. Das Argument des gesetzlich verankerten „gutgläubigen Erwerbs‘ schützte Schweizer Investoren und Händler auch nach dem Krieg vor allfälligen Entschädigungsansprüchen in Zusammenhang von Aktiengeschäften, dem Erwerb von Versicherungspolicen und Kunstgegenständen. (422) Ein letztes groteskes Beispiel: Juden, die die deutsche Staatsbürgerschaft hatten und z.T. schon seit längerer Zeit in der Schweiz lebten, wurden im Zuge der 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes vom 25. November 1941 staatenlos. Mit unerbittlich juristischer Konsequenz wurden sie durch die Schweizer Behörden in den Status von geduldeten Flüchtlingen zurückgestuft. Als im Februar 1945 der Druck der Alliierten stieg, die in der Schweiz liegenden deutschen Guthaben zu blockieren, galten diese ausgebürgerten Flüchtlinge wieder als deutsche Staatsbürger — ihr Vermögen wurde gesperrt. (524) Grenzen historischer „Wahrheit“ Die Expertenkommission hat ihre Arbeit beendet und eine enorme Forschungsarbeit geleistet. Obwohl die Auftraggeber Politiker waren, sind die Adressaten Historiker. Die „Bereitstellung von Grundlagen, die einer rationalen Diskussion und lernprozessorientierten Wissensvermittlung dienen“*, so das vorgängig definierte Ziel der UEK, müssen wohl andere in Angriff nehmen. Ein Aspekt erscheint mir wichtig und richtig: „Der Historiker ist kein Richter.‘“° (547) Die UEK hat nicht gerichtet, aber nach ihrem Ermessen geurteilt. Die Frage nach der historischen Wahrheit zu stellen, lohnt sich nicht — denn: Quid est veritas? Was ist schon Wahrheit?" Hier schliesst sich der Kreis: Die Arbeit der Geschichte ist kein einmaliger, abschliessender Vorgang, kein Abarbeiten, keine Bewältigung des Vergangenen. Sie ist ein permanenter, nie abgeschlossener Prozess.” Besonders die „Aktivdienstgeneration“' — Menschen, die die Bedrängnisse des Krieges und der Nachkriegsjahre am eigenen Leib erfahren haben, fühlten sich durch die Resultate der UEK disqualifiziert und missverstanden." Der Schlussbericht spricht an zahlreichen Stellen davon, dass „Handlungsspielräume‘ von den jeweiligen Akteuren in Politik und Wirtschaft nicht ausreichend genutzt wurden. Als Reaktion auf dieses Urteil war in einem Leserbrief folgendes zu lesen: „Wenn mir jemand eine Pistole an die Schläfe hält, so habe ich Angst. [...] Es nutzt mir in diesem Augenblick wenig, wenn mir Jahre später erklärt wird, die Pistole sei nicht geladen gewesen und ich hätte genügend Spielraum gehabt, etwas tapferer zu sein.‘?! Historische Wahrheit hat eben viele Facetten... Unabhängige Expertenkommission Schweiz — Zweiter Weltkrieg (UEK): Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht. Zürich: Pendo Verlag 2001. 613 S. EUR 29,90 Anmerkungen 1 Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold, Berlin/New York 231999, 106. 2 Vgl. Georg Kreis: Zurück in den Zweiten Weltkrieg. Zur schweizerischen Zeitgeschichte der 80er Jahre. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 52 (2002) 60-68. 3 Vegl.: Schatten des Zweiten Weltkriegs. Nazigold und Shoa-Gelder — Opfer als Ankläger. NZZ-Fokus. Ein Schwerpunkt-Dossier der Neuen Zürcher Zeitung, Nr. 2, Februar 1997. 4 Vgl. u.a. Adolf Muschg: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Fünf Reden eines Schweizers an seine und keine Nation. Frankfurt/M. 1997, 12. 5 Vgl. Urs Altermatt: Die Möglichkeit zum Dialog. In: Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund/Jüdische Rundschau (Hg.): Die Zukunft der Vergangenheit. Beiträge zum Symposium des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes vom 7. Oktober 1999 an der Universität Freiburg/Schweiz, 11-14, 12. 6 „Die Wirklichkeit kann man immer verändern, die Mentalitäten nur schwer“. Ein Gespräch von Alfred Bodenheimer und Stefan Keller mit Roger de Weck zur Holocaust-Debatte. In: Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums 56 (2000) 32-40, 33. 7 Autoren und Titel der einzelnen Studien und Beiträge der UEK sind zu finden unter: http://www.chronos-verlag.ch. 8 Vgl. http://www.uek.ch/de/uekinkuerze.html. 9 „Die ganze damalige Generation hat versagt und ist mitschuldig. Denn in einer direkten Demokratie wie die der schweizerischen wäre das Volk, wenn es sich richtig aufgerafft hätte, durchaus nicht gezwungen gewesen, den ihm unleidlichen Kurs der Regierung während zehn Jahren zu ertragen.“ (Edgar Bonjour: Geschichte der Schweizerischen Neutralität. Vier Jahrhunderte Eidgenössischer Aussenpolitik, Bd. VI 1939-1945, Basel/Stuttgart 1970, 41); vgl. Schlussbericht, 131. 10 Vgl. u.a. Georg Kreis: Die Rückkehr des J-Stempels. Zur Geschichte einer schwierigen Vergangenheitsbewätigung. Zürich 2000 (Rez. in: Zwischenwelt, Nr. 2, 2000, 78-79); Jacques Picard: Zwischen Recht und Politik. In: tachles. Das jüdische Wochenmagazin, 30.11. 2001. 11 Stuart E. Eizenstat: U.S. and Allied Efforts To Recover and Restore Gold and Other Assets Stolen or Hidden by Germany During World War II. Preliminary Report, coordinated by Stuart E. Eizenstat, Washington 1997, bes. II-XI; vgl. Schlussbericht, 252. 12 Diese Banalität des Eigennutzes hat B. Brecht in seinem Stück Mutter Courage und ihre Kinder eindrücklich eingefangen. Mutter