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Der Krieg zwischen Serbien und Kroatien 1991 führte zur Auflösung Jugoslawiens. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina vom April 1992 bis November 1995 ging brutal um die Trennung der Nationalitäten und die Durchsetzung nationaler Hegemonien. In dieser Zeit fand in Serbien eine propagandistische „Gleichschaltung“ und eine Aufwertung einer staatlichen und privaten Soldateska statt. Ein Alltag war kaum zu leben, die Korruption war erdrückend und große Teile der mobilen Jugend verließen damals Serbien. — Die folgenden Auszüge sind Viktorija AladZics Buch „Sun£ani grad. nove i stare price“, Subotica 1998, entnommen. Subotica, 12. November 1993 Mein Lieber, ich habe Dir lange nicht geschrieben, und Du weißt, warum. Ich war über die jüngsten Entwicklungen hier erschrocken. Ich war die ersten sechs Monate in einem Schock-Zustand, und zwei Jahre mußten vergehen, bevor ich aufhörte fernzusehen. Ich entfernte das Fernsehgerät aus dem Wohnzimmer und richtete statt dessen ein Bücherregal ein. Miran ist auch weggegangen. Bevor dies alles begann, waren die Dinge zwischen uns in Ordnung, aber als die jetzige Situation begann, schien alles zusammenzubrechen. Um Dir die Wahrheit zu sagen, ich war erleichtert, daß er ging. Ich bin nun für mich allein, ich fühle mich besser und darum schreibe ich Dir; sonst täte ich dies nicht. Ich weiß, daß Dich schlimme Nachrichten von hier erreichen. Ich bin überzeugt, daß Du meine deprimierenden Briefe erhalten hast. Wie geht’s bei Euch? Hat Schwartz endlich Arbeit gefunden? Ich erhielt gestern meinen Scheck: Dem Wechselkurs nach 10 Dollar wert. Aber mach’ Dir keine Sorgen, ich hungere nicht. Nachmittags unterrichte ich Kinder. Ich arbeite noch an derselben Stelle. Ich überlegte, zu kündigen, aber das Büro ist der beste Platz, um meine Postgraduate-Arbeit zu schreiben. Wir hatten seit dem Sommer überhaupt nichts zu tun. Andere Leute kommen ins Büro und verbringen ihre Vormittage mit Kaffeetrinken, Tratsch und Rauchen. Ich frag’ mich, wo all das Geld für unsere Gehälter herkommt, wenn keiner irgendetwas arbeitet. Obwohl nichts zu tun ist, erlaubt uns unser Chef nicht, das Büro zu verlassen. Ich kann damit leben, zumal ich jetzt alleine in meinem Büro bin. Während meiner selbst auferlegten Pausen sitze ich und schau’ aus dem Fenster auf die Waisenkinder, die im Heim auf der anderen Straßenseite leben. Um zehn Uhr gehen sie üblicherweise spazieren; das ist oft ein trauriger Anblick, aber ich vergesse meist alles andere, während ich sie beobachte. Unlängst hat mir Stamena geschrieben. Sie ist jetzt in der Schweiz; noch nicht verheiratet, aber sie arbeitet daran. Ich werde Dir ihre Adresse schreiben, sobald ich sie habe. Alles Liebe... Subotica, 17. April 1994 Mein Lieber, ich bin endlich damit fertig geworden, die kleinen Puzzlescheiben zu bemalen, die ich Dir bei Deinem letzten Besuch zeigte. Ich werde Dir ein Foto schicken, damit Du sehen kannst, wie sie ausschauen. Meine Prüfungen haben mich erschöpft, und ich begann während meiner Arbeitszeit zu häkeln. Das Wetter ist nun viel besser und unser Chef war in letzter Zeit oft im Krankenstand. Wenn er nicht da ist, gehe ich in den Hof des Waisenhauses und mache dort meine Häkelarbeit. Früher gab es da einen Spielplatz, aber jetzt steht dort nur mehr eine zerbrochene Bank. Die Kinder spielen so wie immer. Manchmal werden sie weggeführt und brechen in Gelächter aus. Ich lache auch. Ich bringe ihnen zumeist Äpfel mit, was sie erfreut. Sie stellen viele Fragen. Ich versuchte einem Mädchen das Häkeln beizubringen. Mirko versorgt mich immer noch mit diesem köstlichen Käse, und manchmal backe ich für die Kinder einen Kuchen. Manche Dinge sind, wie Du siehst, immer noch dieselben. Wann planst Du, herzukommen? Ich würde Dich so gerne besuchen, aber, glaube mir, die Vorstellung schreckt mich. Was, wenn ich draufkäme, daß ich ein Dummkopf war, hier geblieben zu sein? Ich fürchte, daß manche alte Träume, die in mir für lange Zeit vergraben waren, wieder aufgewühlt werden könnten. Ich würde es nicht wagen, Dir in die Augen zu sehen, da Du so hartnäckig darauf gedrungen hast, daß ich mit Dir komme. Damals schien es nicht richtig für mich, aber nun bin ich mir dessen nicht mehr sicher. Wenn ich nur gewußt hätte, was hier passieren würde. Was wäre jedoch, wenn ich dort lebte? Würden die Ereignisse hier dann weniger schmerzen? Wäre ich weniger enttäuscht? Aber das hat nicht damit zu tun, was sich hier tut. Ich würde früher oder später bei der Enttäuschung anlangen. Das kommt scheinbar mit der Reife. Ich frage mich, ob ein Apfel leidet, wenn er reift. Unser Wissen um die Welt um uns ist so gering. Ich kann es nicht mehr erwarten, Dich wieder zu sehen; schreib mir, wann Du mich besuchen kommst. Hast Du noch dieselbe Frisur? Ich denke, kurze Haare passen Dir sehr gut. Alles Liebe... Übersetzt von Peter Mlczoch. Viktorija AladZie ist Architektin und Schriftstellerin und wurde 1959 in Subotica geboren. Sie hat 1985 an der Architekturfakultät in Belgrad diplomiert, wo sie zur Zeit ihre Postgraduatediplom — Forschung über Schutz und Revitalisierung des Bauerbes — betreibt. Mit Gordana Preic Vujnovic hat sie 1992 eine gemeinsame Forschungsarbeit unter dem Titel: „Bau des Theaters in Subotica“ veröffentlicht. Zwischen 1995 und 1997 nahm sie an dem GruppenForschungsprojekt „Bürgerliche Gesellschaft und Architektur in Subotica von 1867-1914“ teil, welches von der Forschungsabteilung der zentraleuropäischen Universität in Prag finanziert wurde. Zur Zeit führt sie die Architekturschule in Subotica. Sie hat zwei Erzählbände veröffentlicht: „Putovanje u Firenzu“ („Reise nach Florenz“) 1989 und „Sljivin cvet“ („Pflaumenblüte“) 1995, beide wurden von ,, Ovita“ in Subotica herausgegeben. 11