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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Das folgende Interview ist der erste Teil eines biographischen Gesprächs mit Herta Blaukopf. 1924 in Wien geboren, erlebt sie, die nach den Nürnberger Gesetzen als „jüdischer Mischling. I. Grades“ galt, ihre Jugend unter Austrofaschismus und Naziherrschaft. Ihre musikalische Ausbildung erhält sie im Kreis der in Österreich verbliebenen bzw. versteckten Schönberg-Schüler. Im Mai 1945 inskribiert sie an der Wiener Universität Germanistik und promoviert 1948 mit einer Arbeit über Arthur Schnitzler. Anschließend journalistische Tätigkeit in der Redaktion des „Abend“, zwischen 1958 und 1964 Lektorats- und Herstellungsarbeit in Verlagen, zuletzt in der Universal Edition. Unter ihrem Mädchennamen Herta Singer erscheinen im Verlag für Jugend und Volk: „Im Wiener Kaffeehaus“ (1959), „Humor und Hamur“ (1962) und „Wien — Stadt der Musik“ (1964). 1959 heiratet sie den Musiksoziologen Kurt Blaukopf. An der Vorbereitung seiner Mahler-Monographien nimmt sie aktiv Anteil und knüpft, als ihr Mann an der Hochschule für Musik ein eigenes Institut gründet und sich aus der Mahler-Forschung mehr und mehr zurückzieht, mit eigenen Forschungen an. Sie widmet sich dem Auf- und Ausbau der Archive in der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft und publiziert u.a. drei Bände mit Briefen des Komponisten, darunter die unveröffentlichte Korrespondenz zwischen Gustav Mahler und Richard Strauss. Teilnahme und Mitwirkung an mehr als einem dutzend Symposien, sowie zahlreiche Publikationen zu literaturwissenschaftlichen Themen. Frage: Wie bist du zur Musik gekommen? Leider bin ich nicht so musikalisch wie meine Mutter, die ein absolutes Gehör hatte und ein noch absoluteres Gedächtnis, sie konnte alles — von einer Brahms-Symphonie bis zum neuesten Schlager - sofort auf dem Klavier in der richtigen Tonart nachspielen. Das habe ich leider nicht geerbt, nur ein gewisses Interesse für Musik von Jugend an. Ich habe natürlich auch Klavierspielen gelernt, ursprünglich bei einer Zuwanderin aus Odessa, die dann im Jahr 38 verschwunden ist, wohin weiß ich nicht, ich befürchte allerdings das Schlimmste. Und das war auch ungefähr die Zeit, in der ich begann, neben dem Unterricht in der Schule, Englisch zu lernen. Ich habe das Gymnasium in der Rahlgasse besucht, wo ich Latein ab der ersten Klasse und Griechisch ab der dritten hatte; meine Eltern waren aber der Meinung, irgend eine lebende Fremdsprache wäre auch ganz gut, und haben mich zur Paula Wägner in die Brückengasse Nr. 16 geschickt, die war zwar keine Engländerin, aber eine bewährte Englischlehrerin. Als die Nazis 1938 in Österreich einmarschierten, warst du vierzehn Jahre alt, wie hast du die Zeit damals erlebt? Aus dem Gymnasium in der Rahlgasse, das sofort nach dem März 38 eine neue Leiterin, eine „Heil Hitler-Direktorin‘“, bekommen hat, hat man mich im Juni 38 entfernt. Das war, da ich als sogenannter Mischling ersten Grades — ein fürchterliches Wort — gegolten habe, eigentlich nicht ganz gesetzeskonform, aber die neue Direktorin hatte nach eigenen Worten den Ehrgeiz, daB alle ihre Madchen beim BDM sein sollten, und da wäre ich nicht zugelassen worden, also ein Störfaktor gewesen. Ob es ihr gelungen ist, wirklich alle in dieser Schule in den BDM hinein zu kriegen, weiß ich nicht, ich habe aber den Verdacht, daß es ihr nicht gelungen ist. Ein Jahr später bin ich in der Handelsakademie am Karlsplatz anstandslos aufgenommen worden, und ich blieb dann dort bis zur Matura. Es war sicherlich vorteilhaft, daß ich privaten Englischunterricht hatte, Französisch habe ich auch privat gelernt und zwar mit einer Großtante, die viele Jahre in Frankreich gelebt hat. Wie verlief deine weitere musikalische Ausbildung? Da ich nun keine Klavierlehrerin hatte, hat mich meine Englischlehrerin, ,,Miss“ Wagner, wie wir sie alle nannten, zu einer Freundin weiter empfohlen, zu Olga Novakovic, die auch vom Privatunterricht gelebt hat. Sie unterrichtete in ihrer Wohnung, auf der Rechten Wienzeile, gleich beim Naschmarkt, Ecke Schikanedergasse. Sie hat mich als Schülerin angenommen, und ich habe dort bis zum Jahr 1945 Klavier „betrieben“, das sag’ ich mit Absicht so, denn gut gespielt habe ich nie. Wie alt ich war, als ich Klavier zu spielen begann, weiß ich nicht, ich nehme an sieben oder acht, und zu Olga Novakovic kam ich mit 14 oder 15, ich kann es nicht mehr genau sagen. Ich hatte natürlich keine Ahnung, wer diese Novakovic eigentlich ist. Ich hatte sie sehr gerne, trotz ihres — wie soll ich sagen — fast absurden Aussehens: rot gefärbte Haare mit starkem grauen Ansatz, ein langes knochiges Gesicht, wie sie überhaupt, schon wie ich sie kennengelernt habe, nur Haut und Knochen war. Sie hatte ganz dünne Finger, die wunderbar Klavier spielen konnten. Sie spielte auch sehr gut Cello, und ich erinnere mich genau, wie sie ein Stück für Violoncello solo von Anton von Webern übte. Webern wagte sie in ihrer Wohnung zu spielen, Mendelssohn zu ihrem eigenen Bedauern nicht. Ich war von dieser Musik natürlich befremdet, Olga aber sagte mir, für sie klinge sie schon wie Mozart. Heute weiß ich, daß Olga Novakovic die vermutlich erste Schülerin von Arnold Schönberg war. Daß sie zu diesem Kreis gehört hatte, war mir natürlich bekannt, aber sie hat im Klavierunterricht nichts anderes gemacht als andere Klavierlehrer auch. Besonders gepflegt hat sie das Vierhändigspielen. Einmal im Jahr gab es ein Schülerkonzert in einem Saal in den Tuchlauben. Bei einigen dieser Produktionen tauchte auch Hans Erich Apostel' auf, der uns wegen seines Charakterkopfes sehr imponiert hat. Olga, unverheiratet, lebte in ihrer Wohnung mit einem alten Faktotum mit Namen Cilli, die alle praktischen Dinge des Lebens erledigt hat, für die Olga meiner Meinung nach völlig ungeeignet war. In dem Unterrichtsraum standen zwei Klaviere und eine Menge Bücherregale. Die Nebenräume habe ich nie gesehen, nur das eine Zimmer, durch das man durchgehen mußte. Von Olgas Kompositionen weiß ich nichts mit Ausnahme von Kinderliedern, die sie für ihre kleinsten Schülerinnen gemacht hat, einige auf Texte von Wilhelm Busch. 13