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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT ORPHEUS te zu. Der Kursbeitrag war ziemlich gering und ich bin dann ein Semester lang einmal in der Woche in die Wohnung einer mir unbekannten Dame im Hochhaus in der Herrengasse gegangen, Wildgans hat dort vor zehn oder zwölf Leuten, manchmal war auch Ratz dabei, die verschiedenen Musikinstrumente erklärt und auch vorgeführt. Er selber war ja Klarinettist im Orchester des Burgtheaters, ist dann aber, wie eine ganze Reihe von Burgtheatermitgliedern, verhaftet worden. Ich glaube diese Burgtheateraffäre ist auch hinlänglich erforscht. 1945, ziemlich bald nach der Befreiung, wurde er für kurze Zeit Leiter der Musikakademie, der heutigen Musikuniversität. In dieser Eigenschaft habe ich ihn dann einmal aufgesucht. Du hast damals auch bei Anton v. Webern gelernt? Ja, der zweite Kurs, über den ich schon öfter gesprochen habe und den auch Olga vermittelt hat, war in der Favoritenstraße, oberhalb der Bäckerei Ratz, in dessen Wohnung. Ich weiß nicht genau, ob es seine Wohnung war oder die seiner Mutter, jedenfalls Konnte er über sie verfügen. Und dort, in einem ziemlich kleinen Kabinett, hat Webern Formenlehre unterrichtet, unter anderen nahmen daran Olga Novakovic, Lizzy Berner, die Frau von Franz Salmhofer, dem späteren Operndirektor, ein Herr Förster, der ein nobles Geschäft am Kohlmarkt hatte, und ich teil. Ich erinnere mich, es muß in den sehr späten Kriegsjahren gewesen sein, denn wir waren sehr glücklich, dort in einem gut geheizten Raum sitzen zu können. Wir blieben auch nach den Vorträgen manchmal beisammen, um zu plaudern. Da ich die Olga stets sehr verehrte, war es mir immer ein Vergnügen und eine Auszeichnung, wenn wir nachher noch ein Lokal besuchen und ein Kracherl trinken konnten. Die meisten in diesem Kreis hatten eine Neigung zum Okkultismus. Olga Novakovic stellte ihren Schülern, vielleicht nicht allen, aber vielen, Horoskope. Die Schriften des Astrologen Oskar Adler machten die Runde. Paula Wagner, die sich selbst als „weiße“, das heißt gütige Hexe bezeichnete, tötete Hitler in effigie, wie mir Polnauer ganz ernstzaft erzählt hat. Und alle pendelten! Von Erwin Ratz weiß ich nur, daß er sich mit Anthroposophie befaßt hat. Wußtest du damals, wer Erwin Ratz war? Von Ratz habe ich nur gewußt, daß auch er zum SchönbergKreis gehörte, alles was ich erfahren habe, stammt aus einer späteren Zeit. Ich weiß nur, er war damals mit Lizzy Berner Iiiert. Sie arbeitete unmittelbar nach dem Krieg als Sekretärin in der Universal Edition. Wie verlief der Unterricht bei Webern? Er hat ganz einfach Formenlehre unterrichtet, das erste Stück, an das ich mich erinnere, war irgendeine Haydn-Klaviersonate. Und er hat uns den Unterschied zwischen einer Periode und einem Satz erklärt. Manchmal hat er den Kopf geschüttelt: Da weiß man nicht, ist das eine Periode oder ein Satz. Und fügte hinzu: „Sehn’S das sind Probleme für mich.“ Ich wußte, das ist ein berühmter Komponist, der viel dirigiert hat, und daher war mein Erstaunen sehr groß, als ich merkte, daß er nicht imstande war, ein Thema einer Haydnsonate auf dem Klavier agogisch richtig wiederzugeben. Er hat es zwar immer wieder versucht, aber dann gesagt: „Olga, spielen‘S des.“ Er machte damals allerdings einen sehr verstörten Eindruck, das muß im Herbst 44 gewesen sein, wo auch schon in Wien Bomben gefallen sind. Man hat mir gesagt, daß er furchtbare Bombenangst hatte und TRUST deshalb sehr verstört war, was ich damals nicht ganz verstanden habe. Es kam dann die Zeit, wo man eigentlich jeden Tag, meist zu Mittag, im Luftschutzkeller war. Und ich kann mich nicht erinnern, mein Gott ich hab’s nicht aus allernächster Nähe erlebt, daß ich dadurch in meinem ganzen Verhalten verändert gewesen wäre. Wußtest du etwas über Weberns Einstellung zu den Nazis? Wir haben ausgeschlossen, daß er etwas mit den Nazis zu tun hatte, da er in der Wohnung von Ratz war, unter Leuten, von denen man eigentlich sicher war, daß sie keine Nazis waren. Aber ich glaube, ich habe damals schon erfahren, daß es mit Weberns Kindern anders war. Vielleicht war er auch aus diesem Grund etwas beeinträchtigt. Politisch hat er sich nie geäußert, er hat uns auch nie eine Analyse von einem Mahler-Satz geboten, das wäre ihm gar nicht eingefallen. Ich glaube, seine Beispiele in der Formenlehre haben bei Bruckner geendet. Ich weiß leider nicht, um welche Symphonie es sich gehandelt hat, aber es war der erste Satz einer Bruckner-Symphonie, von der er uns sagte, daß die musikalischen Formen im wesentlichen die gleichen sind wie in der Wiener Klassik; nur sei alles viel größer, und wir gehen da einen langen Gang entlang mit der Musik und einmal geht links eine Türe auf und es kommt Licht herein, und dann geht rechts eine Türe auf und es fällt ein anderes Licht auf das Thema. So stellte sich ihm der Fortgang dar. Wie war damals deine Situation als „Halbjüdin“ ? Das ist insofern einfach gewesen, als meine Mutter aus einer sozialdemokratischen Familie stammt, und alle waren aus der katholischen Kirche ausgetreten, es gab also keine Religion. Ich erinnere mich, daß mich mein Großvater, als ich einmal das Wort Seele gebraucht habe, furchtbar zusammengeschimpft hat, obwohl ich gar nicht die unsterbliche Seele meinte, sondern einfach Psyche. Und mein Vater war auch nicht religiös. Eine religiöse Zwischenstellung, ein solches Problem war nicht da. Es war nur das, was von außen gekommen ist. Und ich erinnere mich, daß ich in der Schule, in der Handelsakademie, immer in einer gewissen Angst gelebt habe, meine Mitschülerinnen könnten meinen Status erfahren. Erst nachher hat sich herausgestellt, daß es ohnehin alle wußten. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, daß ich irgendwo benachteiligt worden wäre, auch von den Lehrern nicht, die es natürlich ebenfalls alle wußten. Es gab einige Mädeln, die sehr im BDM engagiert und deren Eltern Parteimitglieder waren; mit ihnen habe ich weniger zu tun gehabt, wie das in einer Klasse auch ganz natürlich ist. Dann gab es noch einen kleinen Kreis um mich herum, mit dem ich noch Jahrzehnte nach der Schule befreundet war. Von Schülerinnen bist du nicht diskriminiert worden? Nein, ich habe kein böses Wort gehört. Ich weiß, ich war mit Kindern aus Nazi-Familien nicht gerade befreundet, aber wir haben miteinander geredet, wie das in einer Klasse üblich ist. Mit manchen war man eben befreundet, die anderen waren distanzierte Kollegen. Nein, ich habe eigentlich keine bösen Erfahrungen gemacht. Ich habe allerdings immer in einer gewissen Angst gelebt, nicht zuletzt auch wegen der Tante, die bei uns wohnte. Und ich muß sagen, wenn ich daran denke, wieviel Leute das gewußt haben, so ist es ein Wunder, daß man sie durchgebracht hat. Das noch größere Wunder allerdings ist, daß Paula Wägners „U-Boote“ überlebt haben. In meiner Familie 15