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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT gab es eine Redensart, die lautete: „Wann ist die Hitlerzeit zu Ende? Wenn Miss Wägner mit Dr. Polnauer Arm in Arm durch die Brückengasse geht.“ Der Tag ist gekommen, und er hat sie auch geheiratet, die Ehe war aber nicht sehr harmonisch, wie man mir sagte. Sie hat sich bei mir auch beklagt, daß er den ganzen Tag Schallplatten hört, und lauter so „häßliche Musik“! Er hat ihr aber immerhin ein Leben ohne Englischunterricht geboten, denn er war vorher in der Eisenbahndirektion Hofrat und hat nach dem Krieg seine Hofratstelle wieder bekommen. Die beiden sind auch von der Brückengasse weg und nach Döbling gezogen. Ich dachte immer, „U-Boote“ lebten wirklich völlig geheim und versteckt, du schilderst das etwas anders, es war also offenkundig in gewissen Kreisen bekannt? Ja natürlich, weil es fast unmöglich für eine einzige Familie war, ein „U-Boot“ die ganze Kriegszeit über durchzubringen. Auch meine Tante war, wie gesagt, außer bei uns noch abwechselnd in vier oder fünf anderen Haushalten, im Sommer lebte sie in einem Schrebergarten am Schafberg. Es waren ganz abenteuerliche Sachen, vielleicht war den Leuten auch gar nicht bewußt, was ihnen passiert wäre, hätte man sie entdeckt. Ich glaube nicht, daß jeder sich in jedem Moment bewußt war, was er für ein Risiko eingegangen ist. Und deine Mutter, hat die Angst gehabt? Meine Mutter hat die Tante in einem ganz spontanen Entschluß zu sich genommen. Meine Mutter war eine unglaublich tapfere Frau, sie war nur einsfünfzig groß, und ganz zart, aber von einer unglaublichen Kraft. Wußtest du etwas von Deportationen, hast du davon gehört? Als der Wagen vor dem Haus meiner Tante gestanden ist, und die Leute dort verladen worden sind, da wußte man schon, was los war. Aber von der Familie meines Vaters ist niemand deportiert worden. Die einzige, die gefährdet war, war die Tante Tilde, die von meiner Mutter aufgenommen wurde. Von den anderen Geschwistern meines Vaters ist ein Bruder 38 nach Amerika geflüchtet, ein anderer war mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet und eine Schwester mit einem nichtjüdischen Mann. In der unmittelbaren Familie ist bis zum Jahr 45 nichts passiert, ein Cousin, der war jünger als ich, ist allerdings von einer Bombe getötet worden. Natürlich wußte man von Deportationen. Ich erinnere mich an einen Freund meines Vater, es war der Gynäkologe, der mich zur Welt gebracht hat, der ist nach Theresienstadt deportiert worden. Und ich weiß, daß meine Mutter ihm Pakete geschickt hat. Das zeigt ihre unglaubliche Unerschrockenheit, sie ist mit einem Lebensmittelpaket zum Postamt gegangen, auf dem stand: Theresienstadt. Hast du etwas über „Entartete Musik“ gehört? War dir der Begriff damals bekannt? Nein, das war kein Thema. Übrigens ist auch die sogenannte entartete Musik bis 1938 nicht übertrieben viel aufgeführt worden, wenn man Mahler ausnimmt. Mahler war mir ein Begriff, weil der Vater meiner Mutter Leiter des Arbeitersängerbundes war. Ich erinnere mich, das ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen, daß damals die Zweite Symphonie von Mahler aufgeführt wurde, in der der Chor mitgewirkt hat. Und mein Großvater, der mich beschimpft hat, weil ich das Wort 16 Seele gebraucht habe, hat sich also mit dem „Auferstehen“ und dem ,,Urlicht“ ganz gut abgefunden, aber das war eben Kunst. Hat Olga Novakovic überlebt? Olga ist im Februar 46 gestorben, man sagte mir später, an Hungerödem, einer weitverbreiteten Todesart in dieser Zeit. Damals sind die Lebensmittelrationen eingestellt worden, und die Leute hatten nichts zu essen. Nur bei Olga hätte ich das nie vermutet, sie hat ja direkt am Naschmarkt gewohnt. Ich dachte, daß sie oder Cilli irgendwelche Verbindungen dorthin haben und irgendwie durchkommen würden. Wer mich von ihrem Tod verständigt hat, weiß ich nicht mehr. Bei ihrem Begräbnis, am Südostfriedhof, waren natürlich alle, Ratz und Lizzy, Dr. Polnauer und seine Frau. Wildgans hat im Namen der nunmehr legalen Internationalen Gesellschaft für neue Musik eine Rede gehalten. Und wir Schüler waren natürlich auch dort. Der Hunger, der damals herrschte, ist für uns heute unvorstellbar! Der Hunger war unglaublich und der Kampf um’s tägliche Überleben war auch sehr schlimm. Ich erinnere mich, daß ich im Sommer 45 mit meiner Mutter in einem russischen Lastwagen ins Marchfeld gefahren bin und wir dort irgendwelche entbehrlichen Dinge, Schuhe oder Bettwäsche, eingetauscht haben. Wir sind mit einem Sack Erdäpfel und mit einem Stück Speck, den man auslassen konnte, nach Wien zurückgekommen. Wie hast Du die Befreiung von den Nazis erlebt? Als die Russen in der Nähe waren, haben die Bombenangriffe der Amerikaner und Engländer aufgehört. Ich wohnte damals in der Schönbrunnerstraße 46. Ich erinnere mich nur noch an einen Angriff der sowjetischen Armee auf die Stadtbahnstation Pilgramgasse, aber sonst hat es aufgehört bis zu dem Augenblick, als der Donner der russischen Kanonen hörbar wurde. Ich glaube, es war der Sonntag, bevor die russischen Soldaten in Wien eingerückt sind; ich habe damals mit Freunden einen Ausflug in den westlichen Wienerwald gemacht, wo wir so ziemlich die einzigen Menschen waren. Jedenfalls konnte man auf die Straßen im Wiental hinunter schauen, die mit Leuten vollgerammelt waren, die aus der Stadt flüchteten, mit allem möglichen Fuhrwerk, mit Pferden und alten Lastwagen usw. Meine Freunde und ich kehrten in einer bewirtschafteten Hütte ein und waren dort die einzigen Gäste. Wir sind dann mit der noch funktionierenden Stadtbahn von Hütteldorf in die Stadt gefahren. Ich erinnere mich dann auch noch, man erinnert sich ja nur an Episoden, daß ich gerade bei einer Freundin in unserem Haus in der Schönbrunnerstraße zu Besuch war, als ein Anruf kam. Es meldete sich ein Freund des Familie, der im Lainzer Krankenhaus gearbeitet hat, und der sagte, daß gerade die Russen zu ihm hereinkommen. Sie sind freundlich und geben jedem die Hand. (Denn die sowjetische Armee ist ja vom Süden und vom Westen vorgerückt, nicht vom Osten, wie man glauben sollte.) Dann hat es geknackst — und das Telefon war fiir etliche Wochen aus. Sind sowjetische Soldaten auch zu euch ins Haus gekommen? Wir hatten damals in der SchénbrunnerstraBe einen richtigen Hausmeister namens Maly, der sicher auch gewußt hatte, daß meine Tante bei uns versteckt ist. Aber er hat nie irgend ein Wort, nicht einmal zu uns gesagt. Und dieser Herr Maly begann damals den Keller wohnlich einzurichten, er hat einen Herd an