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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT einen Kamin angeschlossen und die einzelnen Hausparteien haben Betten und Sofas hinunter getragen. Es war klar, daß wir einige Nächte nicht in den Wohnungen verbringen können, sondern im Keller sicherer waren. Und so ist es auch geschehen, ich hatte meine Couch dort stehen, habe mich niedergelegt, und in dem Augenblick wurde heftig an die Haustüre geklopft und einige Russen kamen herein. Die Front war in der Zwischenzeit in die Stadt eingedrungen. Und ich erinnere mich, da hat ein Unteroffizier gesagt, daß zwei Soldaten im Haus bleiben müssen, bis sie zur Ablöse gerufen werden. Die beiden haben von meiner Couch Besitz ergriffen und sich zu zweit hingelegt. Ich bin dann irgendwo in einem anderen Bett untergekommen und ich weiß, die Soldaten haben auf meiner Couch fest geschlafen. Nach zwei Stunden ist ein anderer gekommen und hat furchtbar geschrien, und die beiden sind auf, hinaus, sozusagen ins Gefecht, und zwei andere sind gekommen und haben sich niedergelegt. Die Front war etwa bei der Pilgramgasse. Und so haben wir notdürftig geschlafen. Auch etwas zu essen gehabt und warmes Wasser. Ich erinnere mich, daß mein Vater in die Wohnung hinaufgegangen ist, um sich zu rasieren — heute mutet das absurd an, aber die Russen, die bei uns im Haus waren, haben sich auch rasiert, zum Teil mit warmem Wasser vom Sparherd. Zwei Nächte waren sie im Haus, und als die Front etwas später entlang der Zweierlinie oder dem Ring verlief, waren sie weg. Die Kampftruppe war im allgemeinen sehr diszipliniert, die Übergriffe, die es nachher gegeben hat, sind zumeist vom Troß verübt worden, der zum Teil mit Pferden gekommen war. Ich weiß nicht, ob die aus der russischen Tiefebene kamen, oder ob sie die Pferde erst in Ungarn beschlagnahmt haben. Die Kampftruppe muß eine Elitetruppe gewesen sein, denn sie war sehr korrekt, die Soldaten haben niemandem etwas getan, sondern einem Kind, das im Haus wohnte, einen Apfel geschenkt. Erst als die Front sich wieder entfernte, sind wir mit all unseren Sachen wieder in unsere Wohnungen zurück, sind dann auch bald auf die Straße gegangen. Etwas später waren für kurze Zeit zwei Russen im Haus einquartiert, zwei Offiziere. Natürlich gab es dauernd Schreckensnachrichten und noch immer Kanonendonner. Ich bin einmal auf der Schönbrunnerstraße gegangen, ich glaube, um Wasser zu holen; das haben wir aus einem Brunnen zwei, drei Häuser weiter mit einem Kübel geholt. Plötzlich hörte ich fürchterlichen Kanonendonner. Ich überlege, wo ich mich unterstellen kann, und da kommt mir ein russischer Soldat entgegen, der furchtbar lacht und „nascha katuscha“ sagt. Das habe ich damals verstanden und das bedeutete: „Das ist unsere Kanone, die schießt nicht hierher.“ Das sind so Erinnerungsfetzen, die ich behalten habe. Ihr hattet keine Angst, es gab doch Übergriffe? Ja, die sind auch wirklich passiert und ich weiß von Verwandten, die in Döbling waren, daß fürchterliche Dinge vorgekommen sind. Im Haus, wo Olga wohnte, sind auch sehr schlimme Dinge passiert. Natürlich haben wir Angst gehabt, aber wie gesagt, nicht vor den kämpfenden Soldaten. In der Mehrheit war das der Troß, der nachher die Stadt besetzt hat, die Kampftruppe ist weiter gezogen. Aber das weiß man doch vorher nicht! Man hat überhaupt Angst gehabt und auch begründete Angst. Eine entfernt Verwandte, die im zweiten Bezirk wohnte, ist während der Kampfzeit nicht in den Keller gegangen, und die Kämpfe im zweiten Bezirk waren um vieles heftiger als in Margareten. Die Frau ist gestorben, weil durchs Fenster ein Granatsplitter kam und sie traf. Wahrscheinlich war sie auch zu nahe beim Fenster, um zu schauen was los ist. Also man hat Angst gehabt, man wußte nur nicht, wovor man zuerst Angst haben sollte. Aber wie gesagt, ich war damals einundzwanzig, und da hat man nicht so viel Angst, wie in späteren Jahren. Außerdem wußte man: das ist der Preis, den man für die Befreiung von den Nazis zahlt. Und wenn man mich über die Rote Armee gefragt hat, dann habe ich immer gesagt, die Rote Armee hat mich befreit. Mich, ganz individuell. Haben bei euch im Haus auch Nazis gewohnt? Im Haus Schönbrunnerstraße 46 gab es natürlich auch Nazis, eigentlich sehr wenige. Ich erinnere mich überhaupt nur an eine Wohnung, die früher einem jüdischen Ehepaar gehörte, der Mann war übrigens Musiker. Diese neuen Mieter haben uns ignoriert, und es gab natürlich keinerlei Kontakt. Als dann der April 45 kam, haben sie plötzlich „Grüß Gott, Herr Singer“, zu meinem Vater gesagt, „wie geht’s Ihnen denn?“ Es war immer ein besonderes Vergnügen für mich, wenn dieser Mann, der sich in die jüdische Wohnung gesetzt hat, auch im Luftschutzkeller war. Er war nämlich ein besonderer Held und hatte furchtbare Angst. Einmal ist er vor seiner Frau am Boden gekniet und hat seinen Kopf in ihrem Schoß verborgen. Das war ein so großartiger Anblick, daß ich die Bomben gänzlich vergaß und auch, daß sie mich hätten treffen können. Es war eine Genugtuung, zu sehen, wie er sich fürchtete. Anmerkungen 1 Hans Erich Apostel, Komponist, Dirigent, Pianist, geb. 1901 in Karlsruhe, gest. 1972 in Wien, seit 1921 in Wien; Schüler Arnold Schönbergs. Enge Zusammenarbeit mit Alban Berg. 1946 Präsident der österreichischen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik. 2 Erwin Ratz, geb. 1898 in Graz, gest. 1973 in Wien, studierte bei Schönberg und Guido Adler, war Mitbegründer des Vereins für musikalische Privataufführungen. 1945 Berufung an die Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien als Professor für Formenlehre. Er gründete 1955 die Internationale Gustav Mahler Gesellschaft und gab die Kritische Gesamtausgabe der Werke Gustav Mahlers heraus. Ratz hat in der Hitler-Zeit unter Lebensgefahr mehrere Verfolgte gerettet. Er versteckte Partituren von Hanns Eisler vor dem Zugriff der Nazis und zahlte die Kosten für dessen Flucht in die USA. 3 Josef Polnauer, geb. 1888 in Wien, gest. 1969 in Wien, Schüler Schönbergs, Archivar im Verein für musikalische Privataufführungen und Sekretär Schönbergs an dessen Seminar für Komposition. Nach Gründung der IGNM Vorstandsmitglied der österreichischen Sektion. 4 Michael Gielen, geb. 1927 in Dresden, Pianist und Dirigent, Sohn des Regisseurs und Burgtheaterdirektors Josef Gielen. 1940 Emigration nach Buenos Aires, Rückkehr nach Europa im Jahr 1950. Dirigent an der Wiener Staatsoper, Analysestudien bei Josef Polnauer. Später Dirigent u.a. in Stockholm, Brüssel, Frankfurt. Gielen gilt als einer der wichtigsten Interpreten der musikalischen Moderne. 5 Karl Heinz Füssl, geb. 1924 in Jablonec (Gablonz), gest. 1992 in Wien, studierte 1949/50 an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien bei Swarowsky und Uhl, privat bei Polnauer und Ratz. Arbeit als Musikkritiker, später Leiter der Herstellungsabteilung in der Universal-Edition, Mitarbeiter und später Leiter der MahlerGesamtausgabe. Kompositionen: Kammer- und Orchestermusik sowie die Opern „Dybuk“, „Celerina“ und „Kain“. 6 Friedrich Wildgans, geb. 1913 in Wien, gest. 1965 in Mödling, Sohn des Dichters Anton Wildgans, Musiker im Burgtheaterorchester und Verfasser zahlreicher antinazistischer Flugblätter, die mit dem Pseu17