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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT donym „Der Berghofbauer“ gezeichnet waren. Er war 1940 in Zusammenhang mit der Widerstandsgruppe „Österreichische Freiheitsbewegung“ verhaftet worden. Da ihm keine Tätigkeit im Widerstand nachgewiesen werden konnte, wurde er „nur“ wegen „Nichtanzeige einer hochverräterischen Gruppe“ zu eineinhalb Jahren Kerker verurteilt. Nach 1945 arbeitete Wildgans als Musikreferent der Gemeinde Wien und setzte sich für die Rückkehr der Exilierten und die Verbreitung der Werke der Schönberg-Schule ein. Am 22. Oktober 2001 fand in Kooperation mit dem Orpheus Trust am Wiener Institut für Musikwissenschaft unter dem Ehrenschutz von Oberrabbiner Chaim Eisenberg ein Kantoralmusik-Seminar zum 100. Geburtstag von Oberkantor Israel Alter statt. Israel Alter wurde 1901 in Lemberg/Obergalizien in der heutigen Ukraine geboren. Mit siebzehn Jahren begann er sein Studium an der Musikakademie in Wien und nahm parallel dazu weiterhin Unterricht bei den berühmten Kantoren Jizchak Zwi Halprin und Yehuda Leib Miller. Seine erste Kantorenstelle trat Israel Alter im Brigittenauer Tempelverein in der Kluckygasse an. Ab 1925 hatte er für 10 Jahre die Stelle des Oberkantors in Hannover inne. Von hier aus begann er eine rege Konzerttätigkeit in Europa und den Vereinigten Staaten, mit einem gemischten Programm aus hebräischen und jiddischen Werken, aber auch Opernarien. 1935 ging er nach Südafrika ins Exil, wo er Oberkantor der United Hebrew Congregation in Johannesburg wurde. 1961 übersiedelte er in die USA und unterrichtete dort an der School of Sacred Music in New York, wo er 1979 starb. Seine Biographie steht beispielhaft für die Kantoralmusik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bis 1938 kann Wien als eines der wichtigsten Zentren der Kantoralausbildung bezeichnet werden, fast könnte man von einer „Wiener Schule“ der Kantoralmusik sprechen. Zu den Vorträgen von Oberkantor Shmuel Barzilai (Wien), Thomas Dombrowski (Wien), Akiva Zimmerman (Tel Aviv) und Oberkantor Joseph Malovany (New York) sprach Manfred Angerer vom Institut für Musikwissenschaft folgende Einleitung, die erfreulicherweise eine neue Orientierung der Wiener Musikwissenschaft signalisiert. Auch ich, meine Damen und Herren, heiße Sie zu Beginn dieser Tagung über Kantoralmusik anläßlich des 100. Geburtstags von Oberkantor Israel Alter am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Wien herzlich willkommen. Mein Name ist Manfred Angerer. Dem Programm zufolge bin ich für die Leitung dieser Veranstaltung verantwortlich und richte jetzt „einleitende Worte“ an Sie. Ist aber alles (außer meinem Namen, versteht sich) nicht wahr. Es wäre von vornherein aussichtslos, ein ausgewiesenes Forum von Experten, Praktikern und Kennern über den wahren Sachverhalt hinwegtäuschen zu wollen. Meine Kenntnisse über unseren Jubilar decken sich in etwa mit den wenigen, allgemein informierenden Sätzen, die Sie auf der Rückseite des Programms finden. Überflüssig zu erwähnen, daß diese Sätze nicht von mir stammen und mir nur die Bitte blieb, mich den Text rechtzeitig vor der Eröffnung lesen zu lassen. Das habe ich zwar getan, aber es wäre doch recht anmaßend von mir, Ihnen jetzt vorzulesen, was Sie entweder längst wissen, schon 18 selber gelesen haben oder ohne sonderliche Mühe in kürzester Zeit noch nachlesen können. Wer so wenig weiß wie ich, kann schlechterdings nicht für die Leitung und Planung einer solchen — wie man in Österreich gerne sagt — hochkarätigen Veranstaltung verantwortlich gewesen sein. Das haben andere — ich will nicht behaupten: für mich, wohl aber für Israel Alter und für Sie, meine Damen und Herren — getan. Namentlich natürlich Fr. Primavera Gruber, deren Name — fiir meine Kurzsichtigkeit fast schon zu winzig — grade noch auf dem Programmzettel steht. Aus all dem ergibt sich klar, wie schwer es mir fallen muß, hier und jetzt „einleitende Worte‘ zu finden. Und ich muß doch etwas sagen, wenn ich zuvor schon so wenig tun konnte. Als Ausweg ist mir folgendes eingefallen: Ich erzähle Ihnen vielleicht am besten drei Anekdoten. Aber Anekdote ist wohl nicht der richtige Begriff, besser sage ich wohl: Ich erzähle Ihnen in gebotener Kürze drei Begebenheiten oder skizziere Ihnen drei Konstellationen — oder weniger hochtrabend: drei Umstände. Und vor dem Hintergrund dieser dreifachen Begebenheiten, Konstellationen oder Umstände könnte, ja, müßte sich der hohe Wert, die Bedeutsamkeit der heutigen Veranstaltung klar und überzeugend, geradezu zwingend ergeben. Denn daß ich von Kantoralmusik nichts verstehe und nichts über Israel Alter weiß, dürfen Sie nicht dahingehend interpretieren, daß ich dergleichen Wissen und Forschen, dergleichen Kenntnisse und Interessen für unwichtig, der akademischen Musikgelehrtheit etwa nicht angemessen oder sonstwie peripher hielte. Keineswegs. Zum Ersten: Diese Tagung sollte ursprünglich — wie Sie jetzt wissen, durchaus sinnvollerweise — gar nichts mit mir zu schaffen haben. Ich bin nur der Einspringer im letzten Moment, die zweite Besetzung. Eigentlich hätte hier an meiner Statt Walter Pass zu Ihnen sprechen sollen. Pass war zwei Jahrzehnte hindurch an diesem Institut Inhaber eines musikhistorischen Lehrstuhls und verstarb - trotz langwieriger schwerer Krankheit wohl für alle völlig unerwartet — im letzten Sommersemester. Pass war — wenn ich das als sein langjähriger, wenig hilfreicher Assistent sagen darf - ein ganz ungewöhnlich charismatischer und leidenschaftlicher Universitätslehrer, nicht bloß faszinierend in seiner ansteckenden Begeisterungsfähigkeit, sondern selber aufs stärkste fasziniert von allem Neuen und Unvertrauten, und auch dem allzu Bekannten vermochte er sich zu nähern, als hätte er es nie zuvor erblickt. Er war — wenn ich das starke Wort verwenden darf — sozusagen berauscht von der überwältigenden Fülle dieser Welt, auch — und das scheint eine seltene Gabe zu sein — beglückt von der schier endlosen Vielfalt dessen, was ein Musikwissenschaftler erforschen und kennenlernen kann und darf.