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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Bei der Vorbereitung dieser meiner einleitenden Worte habe ich daher nach Anregungen in den Nachrufen und Gedenkreden gesucht, die sowohl dem Fach wie einer breiteren Öffentlichkeit die Bedeutung dieses Forscherlebens zusammen- fassend bewußt zu machen suchten. Von vielem war hier naturgemäß die Rede: von des Verblichenen Interesse am zypriotischen und bulgarischen, am byzantinischen und gregorianischen Kirchengesang, an Mozart und Paul Hofhaymer, an Operette und Humanistenode, an Webern und der Musik im mittelalterlichen Wien usw. usf. Jedoch zwei für Pass ganz zentrale Interessenund Forschungsgebiete fehlten praktisch überall: Nur in zwei Nachrufen wird seiner intensiven Förderung der musikwissenschaftlichen Exilforschung gedacht. Und gar nur in einem einzigen wird sein jahrzehntelanger Einsatz für die Erforschung der Geschichte der Synagogal- und Kantoralmusik erwähnt. Dieser Text stammt von Thomas Dombrowski, einem Pass-Schüler, dessen Referat den heutigen Vormittag beschließen wird. Ich zitiere den betreffenden Absatz aus Dombrowskis Nachruf: Einen ganz besonderen Platz in seinem Herzen reservierte er einem nahezu exotischen Randthema der Musikgeschichte, der Synagogenmusik. Für den Vorarlberger war es ein Stück musikalischer Heimatkunde, sich mit einem der bedeutendsten Musiker des „Ländle“, mit dem in Hohenems geborenen Kantor Salomon Sulzer[,] auseinanderzusetzen. Mit Prof. Avenary, dem Doyen der „jüdischen Musikwissenschaft“, verfaßte er eine Dokumentation zu Sulzers Leben |[...]; er veranstaltete Sulzer Symposien (1980 und 1983) und berief 1999 Philip Bohlmann, einen der führenden amerikanischen Forscher für Jüdische Musik, zu einem Gastsemester nach Wien. All das stimmt. Und man könnte noch weitaus mehr anführen. Wie konnte das in allen anderen Nachrufen und Gedenkreden vergessen werden? Sollte der deutschsprachigen, der österreichischen, der Wiener musikinteressierten Öffentlichkeit, dem Fach in der Tat die zypriotische Kirchenmusik näherstehen als Salomon Sulzer? Paul Hofhaymer uns mehr bedeuten als die von den Nazis ins Exil Gezwungenen? Man kann es nicht glauben und sucht darum nach einer Erkärung für die - Ausnahme Dombrowski — praktisch allgemeine Tilgung der Kantoralmusik und der Exilforschung aus der musikwissenschaftlichen Erinnerung an Walter Pass. Ich - unwissend auch hier — vermag Ihnen für diese kollektive Amnesie keine überzeugende Erklärung anzubieten. Man kann sich nicht vorstellen, daß jemand (eine konkrete Person) all diese Autoren — allesamt Kollegen, Freunde oder Schüler des Verstorbenen — zur Verschwiegenheit in diesen Punkten aufgefordert haben sollte. (Gleichsam als hätte der zu Würdigende vor Zeiten z. Bsp. die Mao-Bibel verteilt, und das muß man zweifellos nicht wieder aufwärmen.) Und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß diese Themen aufgrund einer bewußten Reflexion zensuriert worden wären. Es ist einfach passiert. (Dombrowski schrieb von einem „nahezu exotischen Randthema der Musikgeschichte“. Darauf kann man schon einmal vergessen.) Ich komme zum zweiten Punkt meiner anekdotistischen Einleitung. Stellte der erste eher eine Begebenheit dar, so haben wir es hier mit einem Umstand im engsten Sinne des Wortes zu tun, denn wir sitzen in diesem Moment allesamt sozusagen mittendrin. Dieser schöne Hörsaal, dessen Wände früher Fieberkurven und allenfalls Schutzengel- und Mutter-Gottes-Darstellungen geziert haben dürften, erhielt vor drei Jahren seine jetzige pikORPHEUS TRUST torale Ausstattung: Auf mehreren Tafeln sehen Sie jetzt die an diesem Institut lehrenden, bis 1998 verstorbenen Ordinarien und Extraordinarien für Musikgeschichte sowie einige Komponisten, die diesem Institut auf besondere Weise verbunden waren. Neben den Photos dieser Herren finden Sie jeweils einen knappen Lebenslauf nebst Würdigung. Ohne dieses Bildprogramm weiter kommentieren zu wollen, möchte ich Sie nur auf einen einzigen Umstand hinweisen: Eine höchst irritierende Satzgruppe kehrt — mit kleineren Varianten, sonst durchaus stereotyp — auf zweien dieser Tafeln wieder. Sie lautet zusammgefaßt: „Seine Haltung während des Dritten Reichs war zwiespältig. Einerseits lieferte er bedeutende Beiträge zur Musikgeschichte Wiens [resp. Österreichs], andererseits war er Mitglied der NSDAP.“ Man muß sich nicht sonderlich anstrengen, um diese Satzgruppe — je nach Temperament — sowohl inhaltlich wie formal-logisch für anstößig, skandalös, wuttreibend oder lächerlich zu halten. Darauf will ich nicht hinaus. Sondern ich frage mich auch hier: Wie kam es denn nur zu diesen skurrilen Sätzen? Wenn sie doch wenigstens alt wären. Dann wären sie vielleicht zunächst vom akademischen Traditionalismus bewahrt worden und könnten uns jetzt gleichsam als zeithistorisches Demonstrationsmaterial dienen. Etwa in der Art: So dachte und feierte man damals. Von dort kommen wir her, aber wir haben das bewältigt. Oder (als Aufgabe für musikwissenschaftliche Einführungsproseminare): Welche verschwiegenen und darum unbewiesenen Annahmen liegen diesen Sätzen zugrunde, welche logischen Fehler sind darin verborgen etc. Aber, wie gesagt, diese ominösen Sätze zieren die Wände dieses Saals erst seit etwa drei Jahren. Selbstverständlich wollten wir (ich schließe mich nachdrücklich mit ein) mit diesen Tafeln die Bedeutung und die Geschichte unseres Instituts in würdiger und zeitgemäßer Form präsentieren. Und dabei wollten wir die „dunklen“ Seiten dieser Geschichte eben nicht verschweigen, sondern freimütig und kritisch neben all dem Positiven dokumentieren. Eines der Ergebnisse dieser Bemühung ist eben die zitierte Satzgruppe über die zwiespältige Haltung einiger unserer Musikforscher. Niemand von uns hat, behaupte ich mit Entschiedenheit, genau das sagen wollen, was diese Zwiespalt-Sätze tatsächlich transportieren. Trotzdem hängt das nun hier. Einigen von uns ist allmählich aufgefallen, was hier steht. Aber wir nehmen es offenbar als Gegebenheit hin. Verstehen Sie mich bitte nicht voreilig falsch. Man könnte meinen, ich betätigte mich grade wieder, wie das halt so meine Passion ist, als Nestbeschmutzer, Brunnenvergifter oder — wie das neuerdings halboffiziell heißt — als Vatermörder. Aber wie sollte ich? Nicht ich sondern Herr Dombrowski hat auf das Interesse von Walter Pass an jüdischer Tradition und jüdischer Musik aufmerksam gemacht. An diesen Tafeln bin ich klarerweise mitschuldig, denn als Institutsangehöriger hätte ich doch wohl etwas dagegen unternehmen können. Ich bin also ohne Zweifel ein Teil des Phänomens, das ich hier darzustellen versuche. Bei den zwei skizzierten Fällen, dem Nachruf auf einen Universitätslehrer wie dem Versuch, der eigenen Institution eine Form von Öffentlicher Repräsentanz (wenn auch nur auf Innenwänden) zu verleihen, bei beiden Fällen handelt es sich sozusagen um ein Schnittflächenphänomen: Die akademische Institution Musikwissenschaft trifft auf ein „Draußen“. Wir stellen uns dar. (Auch mein gegenwärtiger Auftritt gehört natürlich in dieselbe Ereignisgruppe.) 19