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Der Mexikoplatz ist ein urbaner Raum in Wien, von dem niemand erwartet, daß er sich einem der biirokratischen urbanistischen Konzepte beugen wird. Obwohl diese Urbanität durch das Gefüge verschiedener Weltvorstellungen bestimmt wird, bleibt dieser Platz, in der Nähe der aus dem Wiener Stadtbild vertriebenen Donau, was er immer war: ein pulsierendes Kommunikationszentrum Wiens. Wenn es wahr ist, daß die öffentlichen Plätze dem zufälligen Besucher nur selten ihren Charme zeigen, vor denjenigen aber, die dort leben, ihre ganze Verführungskraft ausbreiten, dann trifft das auf den Mexikoplatz nicht zu. Dieser Platz begegnet einem Stadtstreicher mit einer Offenheit, die man sonst nur aus idealisierender Literatur kennt. Eine der disfunktionalsten UBahn-Stationen Wiens; schon beim ersten Schritt aus ihr heraus beginnt sich vor einem ein dialektisches Spiel von Offenheit und Verdeckung zu ereignen. Kein Anlaß ist erforderlich, kein spiritueller Zugang und vor allem keine Mitbetätigung: es genügt abseits zu stehen und zu beobachten. Schon beim ersten Schritt ist man mitten drin. Das Warten auf Spektakel erübrigt sich durch die dargebotene Auswahl an An-, Aus- und Überblicken. Architektonisch ist da nicht sehr viel zu sehen; eine der häßlichsten Kirchen Wiens dominiert den Raum. Aber mit einer geschickten Baum- und Grünfläche wird niemand gezwungen, nur einen einzigen Blick auf die Kirche zu werfen. Ton und Aktion geben vor allem auf der Straße gegenüber dem Monumentalgebäude die kleinen Gemischtwarenläden, das Gasthaus ‚„s’ Brückenbeisl“, die Kellerbäckerei, ein Kiosk und die ewig anwesenden Männer an, die einen ununterbrochen fragen, ob etwas gebraucht wird. Sie scheinen alles zu haben. Die gesamte Atmosphäre ähnelt einem Spielplatz, der die TeilnehmerInnen des Spiels befähigt, neue Zusammenhänge untereinander und miteinander zu erschließen. Rhythmisch wäre der passendere Begriff als atmosphärisch. Auch deswegen, weil sich das Atmosphärische in unseren Vorstellungen (Köpfen) mehr mit Stille, Stillstand und Kälte vermischt als mit Lärm, aufdringlichen Blicken, Angebot. Mosaik der Geschichten Um die Systematik dieses Raumes zu begreifen, müssen wir uns im Klaren sein, daß es vor allem keine zentrale Stelle, von der aus man mit der Erzählung beginnen könnte, gibt. Er ist ein Teil eines größeren Platzes, der durch die Autobahn in zwei Weltvorstellungen (Weltrhythmen) geteilt wurde. Wie jeder Platz ist auch der Mexikoplatz ein Mosaik aus den einzelnen Geschichten seiner BewohnerInnen und BesucherInnen. Allein die Zweiteilung hat es geschafft, diese in zwei Welten zu trennen. Die linke Hälfte ist grün, wird regelmäßig begossen, und Lisl Ponger: Photogramm, 2002 21