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Ich saß an einem lauen Sommerabend in einem Schanigarten im Stuwerviertel, genoß gerade die Abgase des bereits zum 25. Mal vorbeiziehenden Autos eines Freiers, der wohl seine spezielle Dame suchte, da betrat zu später Stunde noch ein Gast, ein alter Herr mit weißem Bart, den Gastgarten, besser gesagt, den Gehsteigfleck, auf dem ich saß. Viele Wirte sind bemüht, auf den schmalsten Gehsteigen noch ein paar Sessel und Tische aufzustellen, um dem Gast das Vergnügen zu bereiten, Stadtluft pur zu schnuppern. Der Stadtbewohner ist ganz versessen darauf, nicht nur sein Auto vor der Haustüre abzustellen, sondern hin und wieder auch sich selbst, um an sternklaren, lauen Abenden in den Himmel zu schauen bei einem Glaserl Wein. Auch wenn er hie und da seinen Hals wie ein liebestoller Schwan verdrehen muß, um zwischen den Häuserblocks, den engen Gassen und dem Dunst der Abgase noch ein Stück vom Himmel erspähen zu können. Der alte Herr trat an meinen Tisch, lächelte entschuldi gend und fragte: „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Ich überblickte die vielen unbesetzten Tische, um dann doch einladend auf einen Platz mir gegenüber zu zeigen. Er bedankte sich mit einer knappen Verbeugung, setzte sich und bestellte bei der heranschlendernden Kellnerin nach einem Blick auf mein Achterl ebenfalls ein Achterl Rot. Wie das in den meisten Fällen so üblich ist, wenn man an einem Tisch sitzt, ohne sich zu kennen, blickten wir eine Weile aneinander vorbei auf die Straße. Plötzlich beugte sich der alte Herr zu mir: „Entschuldigen Sie, wohnen Sie hier im Stuwerviertel?“ „Ja, hier in der Nähe“, sagte ich zurückhaltend. ‚‚Verzeihen Sie meine Indiskretion, aber ich würde Sie gerne etwas fragen. Darf ich?“ Was kam da auf mich zu? Aber im Grunde fand ich den alten Herrn sympathisch, auch wollte ich nicht unfreundlich sein, so sagte ich jovial: „Ja, bitte“, garniert mit dem Unterton „wenn es unbedingt sein muß“. „Wohnen sie gern im Stuwerviertel?“ „Ja, sehr gern“, entgegnete ich rasch. Es war die Wahrheit. „Und der Strich stört Sie gar nicht?“ „Nein! Doch! Natürlich!“, verbesserte ich mich. „Aber, das wird bald anders“, sagte ich stolz und blickte triumphierend auf das Auto, das zum 26. Mal die Runde drehte. „Ach, wollen Sie wegziehen?“ „Wegziehen?! Ich?!“ Ich verstand nicht ganz. „Natürlich nicht. Wir haben eine Bürgerinitiative gegründet und bereits über 1.000 Unterschriften gesammelt. Damit gehen wir ins Rathaus.“ Das skeptische Lächeln des alten Herrn verunsicherte mich nicht im geringsten. Nach einer kleinen Pause sagte er leise: „Wissen Sie, daß es den Strich hier schon seit über 100 Jahren gibt?“ „Nein. Ich wohne noch nicht so lange hier“, turnte ich mit einem etwas ungelenken Scherz über diese betrübliche Offenbarung. „Dann war der Strich wohl eher hier als all die Häuser und ihre Bewohner?“ „Ja, das kann man so sagen, da die ersten Häuser hier erst zwischen 1880 und 1913 entstanden sind, nach der Donauregulierung. Aber seien Sie getröstet, die Wiener Behörden versuchen bereits seit dem 16. Jahrhundert vergebens die Freudenmädchen zu vertreiben. Schon Maria Theresia kämpfte gegen Dirnen und Freier. Und das mit äußerst drastischen Mitteln wie Folter und Schandpfahl. Man hat die leichten Damen sogar per Schiff nach Rumänien transportiert. Das wünscht sich sicher so mancher fromme Bürger wieder.“ „Naja“, ich schluckte meine Antwort hinunter und nippte stattdessen an meinem Weinglas. „Die Damen selbst würden mich ja nicht stören, wäre da nicht das dazugehörige Umfeld, Zuhälterei, Verkehr und die vielen Rotlichtlokale“, versuchte ich meine Abneigung gegen die Berufssparte zu begründen. „Aber das Stuwerviertel ist schon seit 100 Jahren auch ein Auffangbecken für Zuwanderer, Arme“, sprach der alte Herr weiter. „Denken Sie an die vielen Juden, die während des Ersten Weltkrieges aus Galizien und der Bukowina kamen und für die Wien das Tor zum Paradies war. Sie landeten im Stuwerviertel und erhofften sich hier Reichtum und Glück. Der große Joseph Roth hat in seinem Buch ‚Juden auf Wanderschaft’ über diese Menschen geschrieben: Der Ostjude weiß in seiner Heimat nichts von der sozialen Ungerechtigkeit des Westens, nichts von der Herrschaft des Vorurteils, nichts von dem Haß. Er sieht mit einer Sehnsucht nach dem Westen, die dieser keinesfalls verdient. Ihm bedeutet Mexikoplatz. Foto: Nina Jakl 25