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der Westen Freiheit, die Möglichkeit zu arbeiten und seine Talente zu entfalten. Gerechtigkeit und autonome Herrschaft des Geistes.“ „Das hat sich bis heute nicht geändert“, warf ich ein. „Damals waren es die Juden, die Tschechen, die Polen. Und heute? Sind es die Türken, die Afrikaner, und wieder die Polen, die Jugoslawen, die Russen und viele andere sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge, und immer auch noch Verfolgte, Vertriebene, die die Freiheit und Gerechtigkeit des Westens überschätzen.“ Der alte Herr zitierte weiter Joseph Roth: „Die Ostjuden, die nach Wien kommen, siedeln sich in der Leopoldstadt an. Sie waren dort in der Nähe des Praters und des Nordbahnhofs. Im Prater können Hausierer leben. Am Nordbahnhof sind alle angekommen, durch seine Hallen weht noch das Aroma der Heimat, und er ist das offene Tor zu ihr. Die Leopoldstadt ist ein freiwilliges Ghetto. Die Leopoldstadt ist ein armer Bezirk. Es gibt kleine Wohnungen, in denen sechsköpfige Familien wohnen, kleine Herbergen, in denen 50 — 60 Leute auf dem Fußboden übernachten. Im Prater schlafen die Obdachlosen. In der Nähe des Bahnhofs wohnen die ärmsten aller Arbeiter. Und wer wohnt heute in diesen kleinen Wohnungen, von denen es im Stuwerviertel so viele gibt?“ „Immer noch die kleinen Leute und wieder Flüchtlinge, Asylanten, Gastarbeiter, die für die kleinen Wohnungen zu hohe Mieten bezahlen. Und um die hohen Mieten zahlen zu können, wohnen wieder zu viele Menschen auf beengtem Raum.“ „Wissen Sie übrigens, daß zur Zeit der Donauregulierung 1870 bis 1875 schon Gastarbeiter in dieser Gegend lebten? Allerdings in Erdlöchern.“ „Wie bitte?“ Ich glaubte nicht richtig verstanden zu haben. „Ja“, sagte der alte Herr, „Sie haben schon richtig gehört. Man gab den Leuten, die man aus dem Osten herbeigerufen hatte, keine Quartiere. Erst als Seuchen ausbrachen, zimmerte man ihnen notdürftige Baracken für den Winter, ohne Heizung und Wasser. Sie sehen, wie sehr sich in unserem Sozialstaat die Dinge zum Besseren gewendet haben.“ Der alte Mann sah mich forschend an. „Ja, ja“, stammelte ich erschüttert, „so gesehen schon. Aber das soziale Gefälle ist doch noch sehr groß. Außerdem geht die Schere zwischen Arm und Reich schon wieder auseinander. Aber, bitte erzählen Sie weiter. Sie wissen sicher noch viel Interessantes über die Geschichte dieses Viertels?“ „Wenn Sie hören möchten, gerne“, erwiderte mein Gegenüber. „Ich war noch ein kleiner Bub, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach. Ab Ende August desselben Jahres trafen fast täglich in den Abendstunden die Verwundetentransporte am Nordbahnhof ein. Im Prater errichtete man Hunderte Zelte, teils als Lazarette, teils als Militärunterkünfte. Als der Krieg zu Ende war, gab es kaum etwas zu essen und kaum Heizmaterial. Tausende Bäume im Prater wurden gefällt. Der Schleichhandel florierte; meine Mutter hat ihren schönen alten Schmuck auf dem Schwarzmarkt gegen Lebensmittel eingetauscht, damit wir Kinder über den Winter kamen.“ Eine Erinnerung aus jüngster Zeit erstand vor meinen Augen: „Schwarzmarkt Mexikoplatz“. Eine stumme Reihe Polen mit ihren kleinen, manchmal auch kostbareren Habseligkeiten, die sie für ein paar Schillinge einzutauschen hoffen, steht vor der Kirche am Mexikoplatz. Und die sogenannten „Einheimischen“, auch viele Gastarbeiter zählen dazu, umkreisen die stille Runde. Manche aus Neugierde, wie einen Löwenkäfig im Zoo, manche abschätzend, um billig Brauchbares zu erstehen. Und die Polen ihrerseits rechnen sich aus, 26 was sie den Kindern oder der Frau mitbringen können, von all den Schätzen, die es im Westen zu kaufen gibt. „In den zwanziger Jahren beginnt die Inflation zu galoppieren“, fuhr der alte Herr in seinen Erinnerungen fort: „Bis Ende 1924 stieg der Preis von einem Gulasch und einer Semmel von 80 Kreuzer oder höchstens einer Krone auf 30.000 bis 45.000 Kronen. Im Dezember 1921 wurde es den Leopoldstädtern zu viel, und sie demonstrierten gegen die große Not. In der Taborstraße wurden die Geschäfte und Gaststätten geplündert. Es besserte sich bis 1929 etwas. Dann brach die Weltwirtschaftskrise aus. Einer der unzähligen Arbeitslosen, Josef Gerl, versuchte 1934 einen Signalmasten der Donauuferbahn zu sprengen, um ein Zeichen des Widerstands zu setzen. Er begründete seine Tat mit den Worten: ‚Mein Ideal stand mir höher als mein Leben.’ Er wurde hingerichtet. Aber die Arbeiterschaft im Stuwerviertel kämpfte weiter um Demokratie. 1936 lagen Tausende Flugblätter mit Gerls Ausspruch auf der Lassallestraße, am Handelskai usw. Wie aussichtslos dieser Kampf war, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erzählen.“ Damals gingen viele Menschen mit Idealen statt mit Freude durchs Leben, dachte ich voll naiver Skepsis. „Die Arbeiterbewegung hat in der Leopoldstadt und besonders auch im Stuwerviertel eine große Rolle gespielt“, erinnerte sich der alte Herr. „Auch als es am 12. Februar 1934 zum Bürgerkrieg kam. Die bewaffnete Organisation der Rechten,. die Heimwehr, trat zusammen mit der Polizei und dem Bundesheer gegen den Republikanischen Schutzbund, die bewaffnete Organisation der Sozialdemokraten, zum Kampf an. Besonders die Albrechtskaserne und ihre Umgebung waren stark umkämpft. Das Bundesheer stellte auf dem Mexikoplatz Kanonen auf, mit denen der Goethehof beschossen wurde, um den Widerstand der Schutzbündler auf der anderen Seite der Donau zu brechen. Viele Menschen wurden hier in den Arbeitervierteln verhaftet und kamen ins Anhaltelager nach Wollersdorf.“ Ich versuchte mir die Situation vorzustellen. Diese Arbeiter hatten Mut. Das brachte sie in die schwierigsten Situationen und kostete vielleicht sogar das Leben. Aber sie kampften. Und wie ist es heute? Es gibt kaum Wirtschaftswachstum, die Arbeitslosenzahlen steigen. Viele der Unzufriedenen sitzen mit den Fäusten im Sack zu Hause und lassen sich gegen die Schwächsten der Gesellschaft aufhetzen. Hat sie der Mut verlassen, sich selbst gegen Zustände zu wehren, die sie bedrücken? Oder sind sie zu bequem geworden? Der alte Herr schloß seine historischen Betrachtungen mit den Worten: „Ein lustiges Viertel war das Stuwerviertel, als hier noch niemand wohnte und nur Wald und Wiese waren.“ Aber nun wollte ich meinem Gegenüber zeigen, daß ich auch einiges wußte von der Vergangenheit des Viertels, von den Vergnügungen und der Fröhlichkeit, von den Festen, die man hier durchaus zu feiern verstand. „Die Geschichte des Praters steckt voller Phantasie und Zauber! Da, wo wir jetzt sitzen, blühte damals noch die Feuerwerkswiese, auf der Herr Stuwer, aus Schwaben zugewandert, den Wienern zum Gefallen Kunstfeuerwerke erstrahlen ließ. Er errichtete berühmte Bauten in Holzkonstruktion und inszenierte dann den großen Augenblick, indem er sie anzündete. Die Wiener waren, wie es scheint, in alten Zeiten begeisterte Pyromanen, denn sie strömten in Scharen zu diesem Spektakel. Auf der Venediger Au und im Prater entstand ja seit 1766 ein Vergnügungsviertel. Eine große Attraktion auf der anschließenden Kaiserwiese war Venedig in Wien, eröff