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net 1895. Zwischen künstlichen Kanälen standen Nachahmungen venezianischer Palazzi. Auf den Kanälen veranstaltete man Gondelfahrten. Berühmte Wiener Komponisten und Dirigenten feierten hier ihre größten Erfolge, Ziehrer, Leo Ascher, Carl Wilhelm Drescher, sogar Richard Strauß. Später baute Gabor Steiner, der Erfinder und Direktor dieser Vergnügungsstadt, bedeutende Bauwerke aus ganz Europa nach zu einer Internationalen Stadt. Das Riesenrad gehörte auch zu dieser Attraktion.“ „Ja, ja“, schmunzelte der alte Herr, „Jahrzehnte später läßt man wieder künstliche Welten als Attraktionen bauen. Frank Stronach läßt grüßen... Im Prater standen auch erfolgreiche Theater, wie das Fürst-Theater, das Variete Leicht, in dem noch Alexander Girardi und sogar Paula Wessely, der es allerdings dort nicht gefiel, auftraten. Ja, das waren noch Zeiten, als sich die Praterunternehmer einiges einfallen ließen, um das Publikum anzulocken. Das berühmteste Theater des Bezirkes war natürlich das Carl-Theater in der Praterstraße, in dem das hochgeschätzte Vorbild unseres großmäuligen, kleinformatigen Kolumnisten in dem Stück Der Bürger von Wien auftrat.“ „Sie meinen den Staberl?“ ,Ja, Sie haben es erraten“, lachte der alte Herr. „Kennen Sie auch den vielzitierten Satz, mit dem er antwortete, wenn man dem Staberl den Vorwurf machte, verrückt zu sein?“ Der alte Herr warf sich in Pose und zitierte pathetisch: „Ja, um ein Jahrhundert bin ich vorausgerückt, ich kenn alles, weiß alles, begreif alles, beurteil alles - wenn man nur was davon hätt’... und zornig ruft er dann aus: Ich bin ein kleiner Mensch, ich bin ein guter Mensch, wenn ich aber anfang, so bin ich ein Vieh!“ In der Straße war es still geworden. Hie und da kreiste noch ein Auto. Das Kreischen der Menschen, die im nahen Prater ihren Mut auf den Turbo-Gondeln und den Achterbahnen erproben wollten, drang zu uns, unterlegt vom Musikgemisch aus ungezählten Lautsprechern. Ja, wir leben in einem Vergnügungsviertel. „Übrigens, wissen Sie, wer Arnezhofer war?“, fragte mich der alte Herr und ließ seinen Blick über die Straße schweifen, in der wir saßen. „Nein“, erwiderte ich neugierig, „wer ist oder war das?“ „Johann Ignaz Arnezhofer war 1670 als Vertreter der Kirche für die Vertreibung der Juden aus dem Unteren Werd zuständig. Er wurde dafür als erster Pfarrer der Leopoldskirche eingesetzt. Die Kirche wurde übrigens in der Synagoge eingerichtet, nachdem man alles Jüdische daran zerstört und entfernt hatte. Sie brannte allerdings 1683 im Türkenkrieg ab.“ „Das darf doch nicht wahr sein. Und der hat immer noch eine Straße zu seinen Ehren!“ „Die hat er ja erst 1906 unter dem christlichsozialen Bürgermeister Karl Lueger bekommen.“ Ich stürzte meinen Rest Wein hinunter. Der alte Herr bemerkte meine Betroffenheit und sagte tröstend: „Ich hoffe immer noch, daß die Menschen von heute ihren Kindern eine bessere Welt hinterlassen können als vergangene Generationen.“ Er sah auf seine Uhr. „Es ist schon spät, ich habe noch einen weiten Weg und muß jetzt leider gehen“, sagte er bedauernd, winkte der Kellnerin, bat, mich einladen zu dürfen und bezahlte. „Ich freue mich, Sie getroffen zu haben, verehrte gnädige Frau. Viel Glück!“ 27