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Als ich ihm die Hand reichen wollte, war er schon in der dunklen Gasse verschwunden. Sein Wein stand unangetastet auf dem Tisch. Ich blieb noch eine Weile in Nachdenken versunken sitzen und blickte verloren in die leere Straße. Den Glauben des alten Herrn an eine bessere Welt wollte ich gerne teilen. Aber ob sich die Welt jemals ändern wird? Ändern soll sich die Welt nicht, nur ein bisserl besser soll sie werden. Die Welt? Nein! Die nicht. Was denn dann? Die Verhältnisse. Und wer macht die Verhältnisse? Ich stand abrupt auf, stürzte das Achterl meines Gesprächspartners hinunter und war entschlossen, dieses Grätzel zu lieben und basta. Mit verklärtem Blick auf die Lichter, die vom Prater herüberstrahlend die Welt so bunt und schön erscheinen ließen, rannte ich fast eine schlendernde Dame um, fiel fast ihrem Zuhälter in die Arme und landete fast auf der Kühlerhaube des zum 67. Mal kreisenden Autos. Aber ich war nicht mehr davon abzubringen, daß das Stuwerviertel das bunteste, lausigste, lebendigste, schmutzigste, liebenswerteste, verschiedenartigste Viertel von ganz Wien ist. Cecile Cordon, geb. 1939 in Graz, Besuch der Handelsakademie und Theaterschule, 1963 Abschlußdiplom in München, 1967-72 Engagements in Schweinfurt, München, Heilbronn und Tübingen, Zusammenarbeit mit R.W. Faßbinder und G. Tabori. 1972 Geburt eines Sohnes. 1973 Schauspielhaus Hamburg, ab 1975 Theater-, Film- und Fernseharbeit in Wien, Mitarbeit am Kinderfunk des ORF. 1986 Gründung einer Theatergruppe. Seit 1991 in der Politik tätig, derzeit Mitglied des Wiener Gemeinderates. Veröffentlichungen in verschiedenen Kulturzeitschriften. Verfaßte „Das Riesenrad hat alle entzückt“ (Geschichte des Wiener Riesenrades, Wien 1997), Herausgeberin der Bukowina-Schwerpunkthefte von ZW (2000) und zusammen mit Helmut Kusdat des großen Bukowina-Buches „An der Zeiten Ränder“ (Wien 2002). Wo sich heute der Mexikoplatz ausdehnt, gab es vor 200 Jahren im weitverzweigten Gewirr der Donauarme nur Wasser und Au: stromaufwärts das breite Kaiserwasser und stromabwärts den sumpfigen Perschlingbach, stromaufwärts die „Jägerflasche“ und stromabwärts das „Türkenfriedhofsmaiß‘“ (Maiß = Wäldchen). Vom Kaiserwasser blieb als trauriger Rest nur der schmale Arm, der jenseits der regulierten Donau von der Wagramerstraße zum ehemaligen Hauptarm, der Alten Donau, führt. An den Perschlingbach erinnert ein „verborgener“ Straßenname, der zwar noch immer im Wiener Straßenverzeichnis und in den Stadtplänen aufscheint, in der Realität aber nicht mehr ausgewiesen wird, die „Perschlinggasse“. Einst entlang des nunmehr abgerissenen Elektrizitätswerks verlaufend, unterbricht sie — auf der Höhe seines ehemaligen Oberlaufes - in der Gegend des Ballspielplatzes zwischen den Gemeindebauten Engerthstraße Nr. 191 und 193 unsichtbar noch immer die beiden Teile der Wachaustraße. Das „Türkenfriedhofsmaiß“ hieß nach der Stelle, an der nach der Türkenbelagerung von 1683 die Belagerten einen von den Belagerern weit vor der Stadt angelegten Friedhof vorgefunden haben. Der Flurname „Jägerflasche“, sichtlich nach der Form einer abgekommenen Donauinsel gebildet, ist wie diese selbst verschwunden. Weit vor der Stadt und weit entfernt vom äußeren Rand der Vorstädte lag die Gegend um den heutigen Mexikoplatz. Noch 1848 sollte die schwerumkämpfte „Sternbarrikade“ zwischen den stadtseitigen Häusern des Pratersterns die vorderste Verteidigungslinie der Wiener Revolutionäre gegen die kaiserlichen Truppen bilden. Und nichts deutete noch vor 150 Jahren darauf hin, daß hier einmal ein weiter Platz sich wie ein Forum für einen wichtigen Übergang über die Donau in das Marchfeld öffnen würde. Denn der Weg von Wien nach Böhmen und Mähren führte damals weiter nördlich aus der Taborstraße heraus über zahlreiche Donauarme „zwischen den Donaubrücken“ — hier entwickelte sich dann die Ortschaft Zwischenbrücken - nach dem eben erst entstehenden Floridsdorf. 28 Von den Strahlen des Pratersterns, der schon bald nach der von Joseph II. 1766 verfügten Öffnung des kaiserlichen Jagdgebietes „Prater“ am Anfang der Hauptallee angelegt worden war, führte nur ein unbedeutender Weg entlang des „Fahnenstangenwassers“ in die Au, der sich in der Nähe des Perschlingbaches verlor: die „Schwimmschulallee‘“, benannt nach der 1813 hier angelegten Militärschwimmschule, die heutige Lassallestraße. Der Boden dieses anläßlich der Donauregulierung trocken gelegten Donauarmes war noch um 1900 so feucht, daß die an ihrer nördlichen Seite zwischen Radingerstraße und Vorgartenstraße errichteten Häuser wie die venezianischen auf Piloten gestellt werden mußten. Nur der in der Nähe des Pratersterns für die erste in Österreich erbaute Eisenbahnstrecke 1837 errichtete Nordbahnhof stand einsam am Beginn der Allee. Aber auch seine Gleise führten in Richtung Floridsdorf nach Norden und seine sich immer weiter ausdehnenden Frachtmagazine und Kohlenhöfe (Kohle aus Mährisch-Ostrau!) schoben sich hinderlich zwischen die Stadt und das Gebiet des späteren Mexikoplatzes. Den Hauptstrahl, der vom Praterstern aus durch das Augebiet zog, bildete die Feuerwerksallee, die heutige AusstellungsstraBe, die zu dem seit 1847 für Dampfschiffe bestimmten Hafen am alten Strombett in der Nähe des heutigen Gänsehäufels führte. Ihren Namen verdankte die Feuerwerksallee dem in der Gegend der heutigen Sebastian-Kneipp-Gasse gelegenen Vorführungsplatz des „Feuerwerkers“ Georg Johann Stubenrauch, der seinen ihm mißtönend erscheinenden Namen später in „Stuwer‘ umwandelte, wie noch heute ein Industrieller namens „Strohsack‘“ den seinen zu „Stronach“ verbessert hat. Stuwer baute seine Gerüste in die Nähe der rasch anwachsenden Ansammlung von Schaubuden, Gasthäusern und Ringelspielen, die sich nach der Öffnung des Praters südöstlich der Allee gebildet hatte. Seine Familie führte das Unternehmen durch vier Generationen von 1777 bis 1858, und ihr Name haftete so sehr an